Toleranz

Anders, weil die Gesellschaft nur zwei Geschlechter kennt?

Anders, weil die Gesellschaft nur zwei Geschlechter kennt?

Anders, weil die Gesellschaft nur zwei Geschlechter kennt?

Katharina Wimmer/shz.de
Nordstrand
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Tiam aus Österreich fühlt sich in Nordfriesland wohl und freut sich auf das neue Leben an der See. Foto: Tiam G.

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Tiam ist weder Mann noch Frau. Menschen reagierten oft mit Unverständnis. Nun wagt Tiam den Neuanfang in Nordfriesland.

Tiam (50) aus Wien liebt die Nordsee. Jede freie Minute verbrachte Tiam in den vergangenen Jahren hier. Nun ist der Traum, am Meer zu leben, wahr geworden. Doch kann das die neue Heimat sein?

Denn Tiam ist non-binary, genderqueer. Das bedeutet: Tiam definiert sich weder als Mann noch als Frau. Und genau dies steht traditionellem Geschlechterverständnis entgegen und ist vielen fremd.

„Ich bin gespannt, wie Nordfriesland auf mich reagiert.“ Bisher habe Tiam aber nur Positives erlebt und hofft, dass die Norddeutschen genauso offen wie die Leute aus Wien sind.

Charakter bestimmt den Menschen

Vor knapp zwei Jahren stellte Österreich den ersten Reisepass mit dem Geschlechtseintrag „X“ aus. Da es aber nur für intersexuelle Personen möglich ist, gilt diese Option für Tiam nicht. Lediglich der Name konnte amtlich geändert werden.

Bis auf Weiteres bleibt Tiam nur das von Geburt an eingetragene Geschlecht weiblich. Aber auch das soll, sobald es die dritte Option auch für nicht-binäre Personen gibt, geändert werden.

Doch bis zu dieser Entscheidung war es ein langer Weg. Tiam merkte als junger Mensch, dass die traditionellen Geschlechterrollen nicht greifen. „Es war eine innere Entwicklung für mich, bei der ich selbst begreifen musste, wer ich wirklich bin.“

Ich wünsche mir, dass man auf Menschen zugeht und sie nicht in Schubladen steckt.

Tiam

Doch nicht alle Menschen begegneten Tiam nach dem Outing positiv. Das sei sehr schade. Deswegen ist Tiam seit Jahren auch queer-politisch aktiv und setzt sich für eine offene Gesellschaft ein. „Ich wünsche mir, dass man auf Menschen zugeht und sie nicht in Schubladen steckt.“ Äußerlichkeiten sollten Nebensache sein, die inneren Werte machten eine Person aus, und diese seien doch wichtig.

Leben mit dem Coronavirus

Tiam sitzt im Rollstuhl und hat zusätzlich eine Autoimmunerkrankung. Corona ist daher besonders gefährlich. Als Person einer Hoch-Risikogruppe hoffte Tiam auf eine schnelle Impfung.

Bis dahin muss Tiam besonders achtsam sein. Soziale Kontakte gebe es im Moment nur per Videotelefonat. Das sei aber nicht ausreichend. Wie viele andere auch, leidet Tiam an der sozialen Isolation. „Menschen kommen nicht mehr so zu mir, das bedauere ich schon.“ Aber ändern könne man es halt nicht.

Mit dem Elektrorollstuhl ist Tiam mobil und kann viel an die frische Luft. Das ist schon ein Stück Freiheit, und die Natur heile auch die Seele. Dennoch muss Tiam auf sich und sein Leben ganz besonders achten. Das wird gerade in Zeiten einer Pandemie sehr deutlich.

Schnelltests an jeder Ecke

Tiam organisiert den Alltag mit persönlicher Assistenz und zwar 24-Stunden am Tag. Diese Assistenzpersonen arbeiten zur Zeit noch im Schichtsystem und wechseln alle zwei Wochen. Sobald aber das persönliche Budget vom Amt für Eingliederungshilfe bewilligt ist, gilt es ein neues Team aufzubauen. Insgesamt sechs bis sieben Leute werden dann angestellt sein.

In Wien haben alle meine Assistenzen kostenfrei solche Tests machen können. Da war ich dann auf der sicheren Seite.

Tiam

Aufgrund der Autoimmunerkrankung müssen alle, die zu Tiam kommen, einen negativen PCR-Test vorweisen oder eine FFP2-Maske tragen. „In Wien haben alle meine Assistenzen kostenfrei solche Tests machen können. Da war ich dann auf der sicheren Seite.“ Hier gehe das nicht.

Deswegen hat sich Tiam schon einmal einen Vorrat an Schnelltests besorgt und will selbst vor Ort testen – ein Restrisiko bleibe aber immer bestehen.

Von Österreich nach Norddeutschland

Bereits Ende Februar reiste Tiam zusammen mit seiner Assistentin im Auto von Wien nach Nordfriesland. Doch bevor sie die Reise antraten, brauchten sie einen erst 48-Stunden alten negativen Corona-Test. „Vorzeigen mussten wir diesen allerdings nicht. Wir wurden bei Grenzübertritt einfach nur durchgewunken.“

Nach 13 Stunden kamen sie an ihr Ziel. Dort musste sich Tiam mit seiner Begleitperson erst einmal in häusliche Quarantäne begeben. Diese ist mittlerweile beendet, und alle sind Corona-frei. Tiam freut sich auf das neue Leben und den neuen Job beim Zentrum für selbstbestimmtes Leben Norddeutschland in Husum.

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