Europaparlament

Bruch mit Orban: Europas Christdemokraten am Scheideweg

Bruch mit Orban: Europas Christdemokraten am Scheideweg

Bruch mit Orban: Europas Christdemokraten am Scheideweg

dpa
Budapest/Brüssel
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Viktor Orban (r), Ministerpräsident von Ungarn, gibt Manfred Weber, Vorsitzender der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), bei ihrem Treffen im Parlamentsgebäude die Hand. (zu dpa "Finale im Streit zwischen Manfred Weber und Viktor Orban") Foto: Szilard Koszticsak/MTI/dpa

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Jahrelang zoffte sich Ungarns starker Mann mit der christdemokratischen Parteienfamilie. Nun gehen beide getrennte Wege - zumindest im Europaparlament. Ein Eklat mit Folgen für die EU.

Es ist die Scheidung einer längst zerrütteten Ehe: Ungarns rechtskonservativer Regierungschef Viktor Orban bricht mit der christdemokratischen Europäischen Volkspartei im Europaparlament.

Das heißt vordergründig nur, dass Fraktionschef Manfred Weber zwölf Abgeordnete aus Orbans Fidesz-Partei verliert. Doch für die Parteienfamilie und für die Europäische Union könnten die Folgen viel weiter gehen. Keiner überblickt sie bisher ganz.

Was heute passierte, folgte einer Art Drehbuch, das seit Tagen offen lag. Die christdemokratische EVP-Fraktion, zu der auch CDU und CSU gehören, änderte wie angekündigt ihre Geschäftsordnung. Klingt harmlos, war aber alles andere als ein bürokratischer Vorgang. Denn diese Änderung zielte darauf, Fidesz in der EVP-Fraktion zu suspendieren. Dem kam Orban zuvor und zog selbst die Reißleine: Mit dem Briefkopf des ungarischen Ministerpräsidenten verbreitete er binnen Minuten ein Kündigungsschreiben - auch das war angekündigt.

«Ich informiere Sie hiermit, dass die Fidesz-Europaabgeordneten ihre Mitgliedschaft in der EVP-Fraktion beenden», schrieb Orban in empörtem Ton. Die Regeländerungen der EVP seien klar feindlich gegen den Fidesz und deren Wähler gerichtet. Dass gewählte Abgeordnete an der Ausübung ihrer Pflicht gehindert werden sollten, sei antidemokratisch, ungerecht und unakzeptabel. Von solchen Attacken haben die meisten in der EVP-Fraktion aber wohl inzwischen einfach genug. Gut 84 Prozent stellten sich bei der Abstimmung über die Geschäftsordnung gegen Orban.

Zu lange schon dauert die Auseinandersetzung mit dem Ungarn über EU-Grundwerte und Rechtsstaatlichkeit. Orban hatte ja schon vor Jahren das Ziel einer «illiberalen» Demokratie für sein Land ausgegeben. Inzwischen liegt er in der unter anderem in der Flüchtlings-, Medien-, Hochschul- und Justizpolitik mit der EVP über Kreuz - und auch mit der EU. Gegen Ungarn läuft wegen mutmaßlicher Verstöße gegen EU-Grundwerte ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge.

Vor allem Weber - der sich selbst als Brückenbauer bezeichnet - hatte trotzdem sehr lange versucht, Orbans Fidesz-Kollegen in der EVP-Fraktion zu halten. CDU und CSU, die stärkste Gruppe in der Fraktion, traten bei angedachten Maßregelungen auf die Bremse. Jetzt aber sagte ihr Chef Daniel Caspary: «In den vergangenen Monaten hat sich der Konflikt mit der Fidesz leider weiter zugespitzt. Deshalb haben wir ein klares Zeichen gesetzt.»

Abgeordnete der Orban-Partei gehörten seit Ungarns EU-Beitritt 2004 der EVP-Fraktion an. Anfangs galt Orban den Christdemokraten als Hoffnungsträger eines neuen, demokratischen Osteuropas. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) fand Gefallen an ihm. Doch Orbans Regierungsstil seit 2010 eckte an. Immer spürbarer nahm der Machtpolitiker Justiz und Medien in Ungarn an die Leine.

Vor allem die Rechtsstaatsfrage trieb zunehmend einen Keil zwischen Orban und die EVP. Seine rigide Abschottungspolitik während der Flüchtlingswanderungen 2015 fand zwar durchaus Bewunderer über seine Lager hinaus. Doch der Europäische Gerichtshof stellte mehrfach klar, dass viele der forschen Maßnahmen zur «Grenzsicherung gegen illegale Migranten» gegen das europäische Recht verstoßen hatten.

Orban wurde immer angriffslustiger, attackierte EVP-Schwergewichte wie den damaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker oder Fraktionschef Weber mit kruden Verschwörungstheorien, mit denen er sie als Marionetten des US-Investors George Soros verunglimpfte. Für Kopfschütteln sorgten Orbans vollmundige Behauptungen, dass die EVP ihre «christlichen Wurzeln» aufgegeben habe und sich in zeitgeistigem «liberalem Blabla» verliere. Nur er, Orban, halte die wahren Werte der Christdemokratie hoch.

Diesen Vorwurf gab Fraktionschef Weber zurück. Orbans Partei stehe nicht länger auf derselben Grundlage wie die christdemokratischen Gründerväter einschließlich Konrad Adenauer, sagte der CSU-Politiker. «Es ist der Fidesz, der sich abgewandt hat.» Im Übrigen aber war die Zuspitzung dem Konsenspolitiker Weber sichtbar mulmig: «Dies ist kein Tag, wo ich sagen könnte, ich wäre glücklich, über das, was passiert ist.»

Sein Parteikollege Alexander Dobrindt brachte es auf den Punkt: «Das kann langanhaltende und weitreichende Folgen für die EVP-Parteienfamilie haben und wird auch auf den europäischen Einigungsprozess eine negative Wirkung haben.»

Denn was macht Orban jetzt im Abseits? Denkbar wäre ein Wechsel der Fidesz-Abgeordneten zur rechtsnationalen EKR oder zur noch weiter rechts stehenden Gruppe ID im Parlament. Für die ID-Fraktion meinte AfD-Chef Jörg Meuthen sogleich: «Orban ist bei uns willkommen!» Beides würde die Rechte im Europaparlament stärken. Und Orbans Verhalten in der EU würde womöglich noch unberechenbar.

Zuletzt hatte er Ende 2020 wochenlang den EU-Finanzrahmen blockiert, weil er sich nicht mit einem neuen Rechtsstaatsinstrument abfinden wollte. Demnach können EU-Gelder gekürzt werden, wenn Länder bestimmte Grundregeln nicht einhalten. Orban gab sich letztlich mit einem Kompromiss zufrieden, den er als Sieg wertete. Es wird nicht die letzte Machtprobe gewesen sein.

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