Leitartikel

„Beklagenswerte Praxis“

Beklagenswerte Praxis

Beklagenswerte Praxis

Apenrade/Aabenraa
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„Nordschleswiger“-Redakteur Volker Heesch setzt sich in seinem Leitartikel mit einer bedenklich hohen Zahl von Fehlentscheidungen kommunaler Behörde zulasten von unterstützungsbedürftigen Schwerbehinderten und deren Angehörigen auseinander.

Während der vergangenen Tage sorgte ein Thema aus der Abteilung Wohlfahrtsstaat für Schlagzeilen. Mehrere Medien berichteten, dass die unter anderem für Entscheidungen im Bereich des öffentlichen Sozial- und Beschäftigungswesens in Dänemark zuständige Klageinstanz „Ankestyrelsen“ im vergangenen Jahr 46 Prozent der von betroffenen Bürgern beklagten kommunalen Beschlüsse hinsichtlich der Unterstützung von Behinderten im Erwachsenenalter für nichtig erklärt oder eine neue Entscheidungsfindung angeordnet hat.

In vielen Fällen ging es dabei um Zuschüsse für Angehörige, die Behinderte nach Erreichen des Erwachsenenalters unterstützen, oder um Gewährung persönlicher Assistenz. In der Presse wurden schwer- und mehrfachbehinderte Bürgerinnen und Bürger vorgestellt, denen die zuständigen kommunalen Verwaltungen beispielsweise die wöchentliche Stundenzahl ihnen zur Seite stehender kommunaler Pflegekräfte drastisch zusammengestrichen hatten.

Erschreckend ist nicht nur der Umstand, dass bei betroffenen Menschen nicht nur der Alltag kaum noch zu bewältigen ist. Es wurde auch berichtet, dass es bei der Gewährung von kommunalen Leistungen für Behinderte offenbar in den vergangenen Jahren einen systematischen Kurswechsel gegeben hat. Im Jahre 2017 wurde nur 21 Prozent der Klagen in diesem Bereich stattgegeben, 2018 bereits 32 Prozent.

Es ist darauf hinzuweisen, dass „Ankestyrelsen“ zwar dem Sozial- und Innenministerium zugeordnet ist. Es handelt sich jedoch um eine unabhängig arbeitende staatliche Behörde, die nicht nach der Pfeife der Politiker handelt, sondern bei ihr vorgelegten Fällen zu prüfen hat, ob die geltenden Vorschriften eingehalten worden sind.

Es gab rasch Reaktionen nach Bekanntwerden des aktuellen Spar- und Ablehnungstrends im Bereich Behinderten-Unterstützung. So „entschuldigte“ sich der Sozialausschuss des Verbandes der Kommunen mit dem Hinweis auf immer komplexere gesetzliche Vorschriften. Die zuständigen Sozial- und Innenministerin Astrid Krag (Sozialdemokraten) hat diese Entschuldigung zurückgewiesen. Allerdings sei sie bereit, dem Wunsch der Kommunen zu folgen, Vereinfachungen im Bereich der Vorschriften und Arbeitsgänge zu erreichen. Das wäre sicher auch im Sinne der Bürger, denen es bestimmt noch schwerer als den zuständigen kommunalen Verwaltungen fällt, sich in den Bestimmungen zurechtzufinden.

Gegenüber der Zeitung „Jyllands-Posten“ spricht der Professor für Sozialrecht an der Universität Aalborg, John Klausen, davon, dass die kritisierten Fälle darauf hindeuten, dass es im Bereich Menschen mit Behinderungen  große Rechtsicherheitsprobleme gebe. Er hat auch darauf hingewiesen, dass man angesichts der beanstandeten ungerechten Entscheidungen von einer großen Dunkelziffer ausgehen müsse, da viele Betroffene den Klageweg scheuen.

Doch hinter dem Thema, dass es plötzlich einen „Boom“ bei ungerechtfertigten Entscheidungen zulasten einer auf gesellschaftliche Solidarität besonders angewiesene Menschen gibt, verbirgt sich wahrscheinlich mehr als im Vorschriftendschungel verirrtes Verwaltungspersonal. Vor mehreren Monaten berichtete „Danmarks Radio“ über eine „moderne“ Praxis in kommunalen Verwaltungen, private Beratungsfirmen zu engagieren, um Einsparmöglichkeiten zur Entlastung kommunaler Etats aufzuspüren.

„Ankestyrelsen“ hatte Ende 2019 bereits Kommunen auf die Finger geklopft, um sicherzustellen, dass bei dem Einspareinsatz alles gesetzlich mit rechten Dingen zugeht. Natürlich sind Kommunen dazu verpflichtet, mit den Steuergeldern sparsam und vorschriftsmäßig umzugehen, auch im Sozialbereich. Doch angesichts laufender Meldungen über aus dem Ruder laufende Kosten bei kommunalen Bauprojekten und Beraterhonoraren oder rasch erfüllten Wünschen von Investoren, denen Straßenanschlüsse und Flächenerschließungen hinterhergeworfen werden, hinterlässt es doch ein Gefühl von Traurigkeit, dass man bei der Effektivisierung der öffentlichen Hand gerade in einem Bereich wie der Unterstützung von Schwerbehinderten über das Ziel hinausschießt und Bürgerinnen und Bürger im Stich lässt.    

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