Leitartikel

„Der (Alb-)Traum von der breiten Regierung“

Der (Alb-)Traum von der breiten Regierung

Der (Alb-)Traum von der breiten Regierung

Kopenhagen
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Der Traum von einer breiten Regierung über die Mitte hinweg geistert derzeit durch die politische Diskussion. Sollte es gegen alle Wahrscheinlichkeiten glücken, eine solche Regierung zu bilden, könnte der Traum schnell ins Gegenteil umschlagen, meint Walter Turnowsky.

Der Vorschlag von einer Regierung, die sowohl Parteien des blauen als auch des roten Blocks umfasst, wird zentrales Thema des kommenden Wahlkampfes werden. Das steht bereits jetzt fest.

Zunächst klingt die Idee ja auch bestechend: weniger politischer Streit, weniger Einfluss für die politischen Ränder und eine Regierung, die die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hat.

Die Sache hat nur zwei Haken: Eine solche Regierung ist weder sonderlich realistisch noch wünschenswert.

Der Gedanke von einer Regierung über die Mitte hinweg geistert immer wieder durch die politische Landschaft. Dieses Mal wurde sie im Wahlkampf 2019 von Lars Løkke Rasmussen angestoßen, der damals Staatsminister und Vorsitzender von Venstre war.

Es blieb bis zur Wahl unklar, wie er es bewerkstelligen wollte, die Sozialdemokratie von dem Vorschlag zu überzeugen. Der politische Fuchs Løkke Rasmussen wusste das natürlich ganz genau. Doch ging es ihm auch nicht darum, ob die Idee realistisch war. Es war seine Antwort darauf, dass ihm die Felle davonzuschwimmen drohten, was sie trotz Zuwachses für Venstre dennoch taten.

Als er es dann als Ex-Vorsitzender und Hinterbänkler nicht mehr aushielt und sein eigenes politisches Projekt, die Moderaten, gründete, hat er die Regierung über die Mitte hinweg zum Programm erklärt. Es ist dann auch schon so ziemlich der einzige Programmpunkt der Partei. Løkke hat hier eine politische Marktlücke entdeckt, die ihm wieder Macht und Einfluss bescheren soll.

In ihrer Rede am Grundgesetztag am 5. Juni hat die sozialdemokratische Vorsitzende, Staatsministerin Mette Frederiksen, das Thema aufgegriffen. Sie wolle am liebsten allein weitermachen. Gehe das nicht, könne sie sich durchaus eine Regierung mit Beteiligung von bürgerlichen Parteien vorstellen.

Ihr war natürlich genauso klar wie Løkke 2019, wie die Reaktion der anderen Seite lauten würde. Die Vorsitzenden von Venstre und den Konservativen, Jakob Ellemann-Jensen und Søren Pape Poulsen, sind nicht gerade in schallendes Gelächter ausgebrochen, aber viel fehlte nicht. Es fällt schwer, Frederiksen abzunehmen, dass sie ernsthaft erwägt, mit den beiden eine Regierung zu bilden.

Die Zentrumspartei Radikale Venstre steht traditionell schon immer für eine Politik über die Mitte hinweg. Doch seit sie 1993 die Regierung des Konservativen Poul Schlüter gegen die des Sozialdemokraten Poul Nyrup Rasmussen austauschten, sind sie realpolitisch Teil des roten Blocks.

Im vergangenen Jahr haben sie versucht, sich ein wenig von dem Block freizuschwimmen. Als dann die Minkkommission in der vergangenen Woche ihren stark kritischen Bericht veröffentlichte, war die Reaktion der Radikalen, es sollten spätestens Anfang Oktober Neuwahlen ausgeschrieben werden. Ziel sei es – du hast er bereits durchschaut – eine Regierung über die Mitte hinweg zu bilden.

Die sozialdemokratische Alleinregierung haben sie als eigentliche Ursache des Mink-Skandals ausgemacht. Realpolitisch werden sie zufrieden sein, könnten sie die Rolle der Unterstützerpartei gegen die des Koalitionspartners austauschen.

Sieht man sich die Zahlen an, so würde eine Regierung, bestehend aus der Sozialdemokratie, den Radikalen und entweder Venstre und den Konservativen, keine Mehrheit bekommen. Auch dann nicht, wenn man Løkkes Moderate dazurechnet. Eine solche Regierung braucht jedoch eine Mehrheit, denn die Parteien, die nicht mit an den Tisch geladen würden, hätten keine Veranlassung, eine solche Regierung zu unterstützen.

Erst mit Teilnahme beider bürgerlichen Parteien, der Sozialdemokratie und den Radikalen, kämen mit einigermaßener Sicherheit die notwendigen 90 Mandate zusammen.

Laut Umfragen könnten die Moderaten das Zünglein an der Waage werden und damit versuchen, eine breite Regierung zu erzwingen. Sonderlich realistisch ist sie trotzdem nicht. Eher schon, dass die eine oder andere Seite Løkke um den Preis eines Ministerpostens kaufen kann. Denn damit wäre sein eigentliches Ziel erreicht. 

Und selbst wenn es wider Erwarten glücken könnte, sollten wir uns eine solche große Koalition nicht wünschen. Wir brauchen da nur über die Grenze zu schauen. Nach dem Regierungswechsel in Berlin ist immer deutlicher, dass das, was an der großen Koalition als Stabilität gelobt worden ist, sich genauer mit zwei anderen Worten mit den gleichen Anfangsbuchstaben beschreiben lässt: Stillstand und Stagnation. Die Koalitionspartner haben sich gegenseitig ausgebremst.

Die wechselnden dänischen Minderheitenregierungen haben bewiesen, dass sie wendiger, manövrierfähiger und reformfreundlicher sind. Sie suchen sich wechselnde Mehrheiten, um ihre Ziele umzusetzen. Nicht vergessen werden sollte dabei, dass die meisten wichtigen Entscheidungen von einer breiten Mehrheit unterstützt werden.

Die notwendige Stabilität und Planungssicherheit werden dadurch gewährleistet, dass man in wichtigen Bereichen wie Polizei, Gesundheit, Renten, Militär und Finanzpolitik breite mehrjährige Absprachen (typisch von einer Dauer von acht oder zehn Jahren) eingeht, die auch nach einem eventuellen Regierungswechsel Bestand haben.

Es gibt auch einen grundsätzlichen Einwand gegen solch eine Massenverbrüderung der Mitte. Wählerinnen und Wähler, die mit der Politik einer Großen Koalition nicht einverstanden sind, haben keine Regierungsalternative, der sie ihre Stimmen geben könnten.

Für eine gesunde Demokratie ist es aber notwendig, dass es eine starke Opposition gibt. Und die gibt es nur dann, wenn sie glaubwürdig als mögliche Regierung auftreten kann. Was oft als Streit wahrgenommen wird, ist nun mal Teil der demokratischen Auseinandersetzung. Das muss man aushalten können, denn die Alternative ist schlimmer – um es ein wenig vorsichtig auszudrücken.

Übrigens gab es in den vergangenen 50 Jahren eine breite Regierung über die Mitte hinweg. 1978 bildeten die Sozialdemokratie und Venstre eine Koalition, um die „politische Stabilität zu sichern.“ Sie hatte ein Jahr und 57 Tage Bestand.

 

 


 

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