Diese Woche in Kopenhagen

„Eine außergewöhnliche Wahl“

Eine außergewöhnliche Wahl

Eine außergewöhnliche Wahl

Kopenhagen
Zuletzt aktualisiert um:

Diesen Artikel vorlesen lassen.

Seit fast 30 Jahren war am Wahlabend klar, wer die neue Staatsministerin oder der neue Staatsminister wurde. Das wird diesmal voraussichtlich nicht so sein, denn es wird zu harten Verhandlungen um die Regierungsmacht kommen. So lautet die Einschätzung von Walter Turnowsky kurz vor der Wahl, die die politische Landschaft durcheinanderwirbelt.

Hand aufs Herz: Wirst du dieselbe Partei wählen wie vor dreieinhalb Jahren? Du musst es mir nicht sagen, schließlich haben wir geheime Wahlen.

Solltest du jedoch dein Kreuzchen hinter demselben Parteibuchstaben wie 2019 machen, gehörst du einem schwindenden Teil der Wählerinnen und Wähler an. Fast die Hälfte wird laut Umfragen diesmal eine andere Partei wählen.

Diese Wahl ist in mehrfacher Hinsicht eine Abstimmung wie bisher kaum eine. Auch während des Wahlkampfes haben sich die Wählerinnen und Wähler bewegt wie nie zuvor. Der Abstieg von Søren Pape Poulsen und seinen Konservativen sowie der gleichzeitige Aufstieg von Lars Løkke Rasmussens Moderaten sind das deutlichste Bild des untreuen Wählervolks.

Und wo wir gerade bei Lars Løkke sind – seine Partei ist der wesentlichste Grund, weshalb sich die politische Landschaft in Dänemark dauerhaft verändern könnte. Anscheinend unaufhaltsam sind die Moderaten von Umfrage zu Umfrage weiter nach oben geklettert.

Das „Anscheinend“ im vorherigen Satz ist bewusst gewählt, denn bekanntlich ist nichts vorbei, bevor die dicke Dame gesungen hat. Und so wie dieser Wahlkampf sich bisher entwickelt hat, kann sie bis zum Dienstag durchaus noch zwei bis drei Arien in sich haben.

Bisher konnte Løkke den Rückenwind genießen, doch im Laufe dieser Woche hat sich die Sozialdemokratie auf ihn eingeschossen. Es hagelt scharfe Bemerkungen von führenden Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, und auch die Berichterstattung in den Medien ist kritischer geworden. Vor allem die Kritik an seinen Rentenplänen – ob gerechtfertigt oder nicht – könnte ihn noch empfindlich treffen.

Doch dicke Dame hin oder her, das wahrscheinlichste Ergebnis ist, dass Løkke sich am Dienstagabend in der bequemen Rolle des Königsmachers befinden wird. Eine Mehrheit für den roten Block ist noch denkbar, für den blauen Block nicht.

Seit fast 30 Jahren war klar, dass eine Stimme für die Radikalen oder die Parteien links von ihnen eine Stimme für eine sozialdemokratische Staatsministerin oder einen sozialdemokratischen Staatsminister war. Eine Stimme rechts von den Radikalen war eine Stimme für einen Venstre-Staatsminister (eine liberale Staatsministerin hat es bislang nicht gegeben).

Mit Løkke in der Mitte sieht das alles plötzlich anders aus, und daher können die Regierungsverhandlungen kompliziert und – für dänische Verhältnisse – langwierig werden.

Sowohl Mette Frederiksen als auch Lars Løkke Rasmussen sind mit dem Wahlziel angetreten, eine breite Regierung über die Mitte hinweg zu bilden. Die bürgerlichen Parteien haben bereits abgewinkt.

Frederiksen ist jedoch gezwungen, selbst bei einer roten Mehrheit zumindest den Versuch zu unternehmen, da sie ansonsten vollkommen unglaubwürdig würde. Eine Variante wäre also eine Regierung der ehemaligen Kontrahenten Frederiksen und Løkke. Zwar ist der Ton zwischen der Sozialdemokratie und den Moderaten im Moment nicht  besonders freundlich, aber nach der Wahl ist nicht gleich vor der Wahl.

Das Hauptproblem für diese Konstruktion wäre, woher sie ihre Mehrheit nehmen sollte. Die bürgerlichen Parteien werden nicht im Traum daran denken, eine solche SM-Koalition (die Anspielungen auf Sado-Masochismus florieren bereits in den sozialen Medien) zu unterstützen.

Auch nicht bei den linken Parteien löst die Konstellation Begeisterungsstürme aus. Die Sozialistische Volkspartei (SF) könnte sich vielleicht noch überzeugen lassen, dass Mette mit Lars immer noch das geringere Übel ist als Jakob Ellemann-Jensen mit den rechten Parteien.

Dass die Einheitsliste eine solche Regierung unterstützen sollte, scheint schwer vorstellbar – nicht zuletzt für die machtvolle Parteibasis, die den Entschluss absegnen müsste. Auch die Alternativen, sollten sie den Einzug schaffen, sind keine natürlichen Unterstützer einer solchen Koalition. Das Wahlergebnis kann so ausgehen, dass die Unterstützung durch SF und die Radikalen für eine Mehrheit reicht, aber sie wäre hauchdünn.

Løkke kann auch seine Karten anders spielen und versuchen, selbst erneut Staatsminister zu werden. Er könnte quasi die Sache mit dem geringeren Übel gegenüber den bürgerlichen Parteien ausspielen; ihnen also mit Frederiksen drohen, wenn sie nicht ihn zum Staatsminister küren.

Damit bekäme er allerdings Probleme mit der Glaubwürdigkeit, da erklärtes Ziel seines Projekts ist, den Einfluss der Flügelparteien zu beschneiden. Er wäre als Regierungschef der Bürgerlichen von mindestens einer rechten Partei abhängig. Das Stehaufmännchen der dänischen Politik hat jedoch schon größere Glaubwürdigkeitskrisen überstanden.

Für Jakob Ellemann sieht es ausgesprochen schwierig aus. Er muss darauf setzen, dass eventuelle Gespräche zwischen den Moderaten und der Sozialdemokratie scheitern, sie keine Mehrheit finden, oder sich bereits im Endspurt des Wahlkampfes zu sehr verkrachen.

Mit ihren Frontalangriffen auf die Moderaten setzt die Sozialdemokratie offensichtlich darauf, dass es dem roten Block doch noch gelingt, erneut eine Mehrheit zu erringen. In dem Fall ist nicht unwahrscheinlich, dass Frederiksen nur zum Schein um eine Regierung über die Mitte hinweg verhandelt, um dann „zähneknirschend“ auf eine rote Mehrheit zurückzugreifen.

Weitere fantasievolle Varianten sind denkbar: zum Beispiel ein anderer sozialdemokratischer Staatsminister (es wäre ein Mann) als Mette Frederiksen. Løkke hat den Gedanken in den Raum gestellt – zur guten Stimmung zwischen den beiden Parteien hat es nicht unbedingt beigetragen.

Mit anderen Worten: Die dicke Dame wird am 1. November lediglich eine kurze Atempause einlegen, um den finalen Auftritt erst viel später anzusetzen. Wer taktische, politische Spielchen liebt, sollte sich schon mal mit reichlich Popcorn eindecken.

 

Mehr lesen

Leserbrief

Meinung
Jan Køpke Christensen
„Ønskes: Et Danmark i balance!“