Diese Woche in Kopenhagen

„Man muss nicht gleich alles teilen“

Man muss nicht gleich alles teilen

Man muss nicht gleich alles teilen

Kopenhagen
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Wer gedankenlos sogenannte Informationen aus den sozialen Medien teilt, kann sich sehr schnell der Verbreitung von Unsinn und Schlimmerem schuldig machen, meint Walter Turnowsky. Er rät gerade in der jetzigen Situation zu Zurückhaltung.

Es gibt offensichtlich Menschen, die meinen, hinter dem kleinen Pfeil rechts unterhalb eines Facebook-Eintrags stehe ein Imperativ. „Teilen“ ist jedoch keiner, sondern gibt lediglich an, dass man die Möglichkeit hat, den Beitrag zu teilen; man muss nicht. 

Auf Dänisch ist das ein wenig komplizierter, denn bei „del“ könnte man tatsächlich annehmen, es sei ein Befehl. Das Missverständnis scheint jedoch nicht sprachlicher Art zu sein, denn, soweit ich beobachtet habe, wird in beiden Sprachen so ziemlich gleich fleißig geteilt.

Auf dem zu X gewandelten Twitter steht ohnedies nichts neben dem entsprechenden Symbol, und hier wird womöglich noch eifriger geteilt, ohne dass man groß den Wahrheitsgehalt prüft oder kontrolliert, wo die Information herkommt. Die Tatsache, dass man sogar den Post selbst nur halb gelesen hat, hindert viele Menschen nicht daran, ihren eigenen Senf dazuzugeben. Häufig nach dem Motto: Ich habe es ja schon immer gewusst.

Doch gerade bei den Posts, die bestätigen, was man schon immer gewusst hat, sollte man meiner Erfahrung nach besonders vorsichtig sein. Denn hier spielt einem das Unterbewusstsein liebend gerne einen Streich und schaltet normales Nachdenken ein wenig aus.

Eine mysteriöse Karte

Derzeit wird von einigen Menschen gerne eine Karte geteilt, die „beweist“, dass der Sauerstoffschwund in den dänischen Gewässern nicht dem Nährstoffeintrag aus der Landwirtschaft geschuldet ist. Es ist die offizielle Karte aus dem Bericht des Nationalen Zentrums Umwelt- und Energiezentrums, auf der jemand Pfeile, die Meeresströmungen darstellen sollen, aufgemalt hat.

Dieser „Jemand“ ist „Growz – eine Denkfabrik für das grüne Gewerbe“. Gegründet worden ist sie von Allan Holm Nielsen, der auch, soweit ich erkennen kann, der einzige Denker der Fabrik ist. Sein täglich Brot verdient er als leitender Mitarbeiter des Kunstdüngerherstellers „Flex Fertilizer System“.

Internationales Expertenteam bestätigt dänische Forschung

Es ist selbstverständlich vollkommen zulässig, Karten und Informationen dieser Denkfabrik zu teilen. Nur sollte man, bevor man auf den Knopf drückt, vielleicht doch einen Moment lang überlegen, ob eine Karte mit aufgemalten Pfeilen tatsächlich mehr als 20 Jahre Forschung dementiert. Forschung, die zeigt, dass 60 bis 70 Prozent des Stickstoffeintrags in die dänischen Binnengewässer aus der dänischen Landwirtschaft stammen und die Nährsalze den Sauerstoffschwund verursachen (niemand behauptet, dass die Abwässer aus den Kläranlagen keine Rolle spielen).

Die offizielle Beratung der Regierung durch diese Forscherinnen und Forscher ist übrigens auf Betreiben des Landwirtschaftsverbandes „Landbrug og Fødevarer“ von einem internationalen Expertenteam überprüft worden. Dessen Ergebnis: Die Berechnungen und Empfehlungen sind korrekt – zehn Jahre habe die Politik damit vergeudet, die Empfehlungen nicht zu befolgen.

Vorsicht mit den Informationen über den Israel-Hamas-Krieg

Nun verunreinigt das Teilen von alternativen Wahrheiten über das Ersticken der Gewässer ausschließlich die Debatte innerhalb Dänemarks.

Sehr viel ernster ist das kritiklose Teilen von „Informationen“ über den Krieg zwischen der Hamas und Israel. Angesichts der schrecklichen Ereignisse und in Respekt vor den Opfern sollte man hier besonders vorsichtig dabei sein, was man verbreitet und welche Kommentare man abgibt.

Doch das Gegenteil ist traurigerweise, aber nicht überraschenderweise, der Fall. In den sozialen Medien wird besonders deutlich, wer schon immer gewusst hat, wer im Israel-Palästina-Konflikt die Schuld hat. Auch Politikerinnen und Politiker halten sich da nicht zurück.

Schnellschüsse über Explosion in Hospital

Als am Mittwoch die ersten Meldungen über die Explosion im al-Ahli Arab-Hospital in Gaza bekannt wurden, waren so einige sehr schnell dabei, Israel zu verurteilen. Als dann Israel bekannt gab, man habe Informationen, eine fehlgegangene Rakete des Islamischen Jihad sei schuld, kam ebenso schnell die Retourkutsche von der Gegenseite. Bestätigte Informationen hatte keiner. Und auch wenn es jetzt Hinweise gibt, dass es tatsächlich ein Blindgänger von der palästinensischen Seite gewesen sein kann, ist es geradezu unverantwortlich, wenn Menschen auf X Vergleiche zum Reichstagsbrand heranziehen. 

Bevor man einen Post teilt oder einen Kommentar ablässt, sollte man sich an das Diktum des US-Senators Hiram Johnson erinnern, im Krieg sei die Wahrheit das erste Opfer. Sinnvoll ist vielleicht, gar nichts über den aktuellen Konflikt zu teilen – es nutzt vor allem den Extremistinnen und Extremisten auf beiden Seiten.

Der nachdenkliche Oberrabbiner

Wobei ich das dann doch etwas relativieren möchte: Die nachdenklichen Kommentare des dänischen Oberrabbiners Jair Melchior kann man ohne Bedenken teilen. Nur drei Tage nachdem die Hamas in Israel Zivilistinnen und Zivilisten entführt und ermordet hatte, gab er „Berlingske“ ein Interview.

„Selbstverständlich sollte man auch mit den Palästinensern Sympathie haben, aber man sollte keine Sympathie mit der Hamas haben. Es ist wichtig, die beiden Dinge auseinanderzuhalten. Die Palästinenser sind nicht die Hamas, und die Hamas ist nicht gleich den Palästinensern“, sagte Jair Melchior.

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Leitartikel

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
„Kabale Mette Frederiksen“