Leitartikel

„Es ist an der Zeit, dass wir uns reinen Wein einschenken“

Es ist an der Zeit, dass wir uns reinen Wein einschenken

Es ist an der Zeit, dass wir uns reinen Wein einschenken

Apenrade/Aabenraa
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Der dauerhafte Krisenmodus ist die neue Normalität. Der Zeitpunkt ist gekommen, an dem wir uns alle mehr zumuten müssen. Statt dem Volk weiter Sand in die Augen zu streuen, muss die Politik dringend eine offene und schmerzvolle Debatte über die zahlreichen Herausforderungen beginnen, vor denen wir jetzt und in Zukunft stehen, meint Nils Baum.

130 km/h auf Autobahnen, damit soll jetzt Schluss sein, meinen die Radikalen, die Einheitsliste und die Volkssozialisten. Die Begründung klingt zunächst einleuchtend: Wir müssen unseren Ölverbrauch senken.

Ansonsten drohe eine Ölkrise. Denn ein Viertel unseres Öls kommt aus Russland.

Der reflexartige Protest der Opposition ließ selbstverständlich auch nicht lange auf sich warten. Die Befürchtung bei Venstre ist allerdings nicht eine mögliche Ölkrise, sondern die möglichen Nachteile einer solchen Geschwindigkeitsbegrenzung für unsere Mobilität.

Ich muss schon sagen: Das ist ein starkes Stück!

Es ist Krieg in Europa, aber unsere Debatten folgen weiterhin unverdrossen dem alten Muster: „Ja, wir müssen etwas tun; nein, aber bitte nichts, was unseren Wohlstand gefährdet.“

Die Debatte um eine Geschwindigkeitsbegrenzung ist dabei nur ein aktuelles, stellvertretendes Beispiel von vielen, die dieser Tage im Raum stehen in Gedankenspielen darüber, wie wir am besten durch die aktuelle Krisensituation kommen.

Und genau hier liegt das Problem: Die Politikerinnen und Politiker wollen uns noch immer weismachen, dass es stets nur ein paar Problemchen gibt, die wir mit ein paar gezielten Gegenmaßnahmen schon gelöst bekommen werden.

Doch die Wirklichkeit ist inzwischen eine andere. Die eine aktuelle Krisensituation gibt es nicht mehr. Wir haben es stattdessen inzwischen mit einer Vielzahl an strukturellen Herausforderungen zu tun, deren Umfang und Verzahnung miteinander so groß ist, dass wir sie nicht mehr nur durch ein paar kleinere gezielte Gegenmaßnahmen lösen können.

Es ist deswegen höchste Zeit, dass die Politik der Bevölkerung mehr zumutet.

Da mag mancher einwenden: Das ist ja unerhört!

Doch wir stehen an einer Zeitenwende. Artensterben, Klimawandel, Corona-Pandemie, Nahrungsmittelverknappung, Massenflucht nicht nur aus der Ukraine, die Unterbrechung von globalen Lieferketten, die Spaltung der Gesellschaften – das bisherige wohlige Gefühl von Normalität, das die Krise als eine Ausnahmesituation erscheinen lässt und uns den naiven Glauben schenkt, wenn wir nur diese eine Krise überwinden, dann geht es weg und alles wird gut, lässt sich bei ehrlicher Betrachtung nicht länger aufrechterhalten.

Wenn wir wieder ein Stückweit Gestaltungsmöglichkeit zurückerobern wollen, anstatt nur den Krisen hinterherzulaufen, müssen wir die Herausforderungen grundlegender anpacken. Denn eine Krise kommt heute nicht mehr allein daher, vielmehr bauen Krisen aufeinander auf, verstärken sich teilweise gegenseitig und lassen sich deshalb nicht einfach durch ein paar Maßnahmen hinwegwischen.

Krise ist die neue Normalität.

Wenn dann Politikerinnen und Politiker in alten Verhaltensmustern verharrend eine Debatte über eine Geschwindigkeitsbegrenzung beginnen und sich um die Auswirkungen auf unseren Wohlstand streiten, tragen sie erfolgreich dazu bei, dem Volk Sand in die Augen zu streuen. Denn damit signalisieren sie, dass unser größtes Problem in der Frage besteht, inwieweit wir eventuelle Nachteile in unserer Mobilität erleiden.

Dies verkennt die Dimension der tatsächlichen Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen. Die Maxime, dass zu viel der Wahrheit Panik in der Bevölkerung auslösen kann, wird uns auch nicht weiterhelfen. Die Lage, in der wir uns inzwischen befinden, erfordert nämlich nicht mehr nur den Willen zum Neudenken, sondern auch die Bereitschaft, schmerzhafte Einschnitte und Veränderungen von Gewohntem zu ertragen.

Das Motto „Macht was ihr wollt, aber pinkelt mir nicht ans Bein“ geht darum auch nicht mehr. Das ist für eine von Wohlstand verwöhnte Wachstumsgesellschaft, in der es fast immer nur aufwärts ging, natürlich nur schwer zu ertragen.

Was für eine Zumutung, mag mancher da denken.

Zwar ist der Vorschlag eines Tempolimits oder eines sonntäglichen Fahrverbotes natürlich nicht aus der Luft gegriffen und kann auch eine kleine Wirkung haben. Aber das Herumdoktorn im Klein-Klein wird die gegenwärtigen Krisen eher noch verschlimmern. Deshalb sei die Frage erlaubt: Wo bitte sind die Politikerinnen und Politiker, die Wirtschaftslenker und Kultureliten, die sich trauen, die großen Debatten, die unsere Gesellschaft nachhaltig verändern, nicht nur anzustoßen, sondern dabei auch noch aufs Tempo zu drücken, um unabwendbare Veränderungen schneller als bisher herbeizuführen?

Je eher wir uns an den unangenehmen Gedanken gewöhnen, dass wir das Gewohnte nicht länger als etwas behandeln können, auf das wir ein Anrecht haben, desto größer werden unsere Chancen, verhindern zu können, dass alles noch schlimmer kommt. Denn in Zukunft wird uns niemand mehr das Recht auf das Gewohnte gewährleisten können.

Und deshalb brauchen wir eines jetzt ganz bestimmt nicht: eine Scheindebatte um ein Tempolimit auf Autobahnen. Es ist stattdessen an der Zeit, dass wir uns allen reinen Wein einschenken.

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