Leitartikel

„Dänisches Fußballherz“

Dänisches Fußballherz

Dänisches Fußballherz

Kopenhagen/Apenrade
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Neue Helden: Die dänische Fußballnationalmannschaft hat die Herzen einer ganzen Nation gewonnen. Der Vater des Erfolges, Nationaltrainer Kasper Hjulmand, machte sich bereits vor 16 Jahren Gedanken über Dänemarks Fußball-Zukunft.

Mittwochabend flossen nach Dänemarks EM-Niederlage im Halbfinale gegen England die Tränen. Die Enttäuschung war groß über das sportliche Aus, doch schließlich überwog der Stolz einer ganzen Nation über eine tolle Mannschaft.

Das dänische Team war im Halbfinale gegen England stehend k.o., und der Sieg der Gastgeber war daher alles andere als unverdient. Einen faden Beigeschmack gab es dennoch: Zwei Bälle waren im in der Nachspielzeit auf dem Feld, doch statt abzupfeifen, gab es wenige Sekunden später den entscheidenden Elfmeter-Pfiff nach einer minimalen Berührung. Damit platzte der Traum der Dänen, sich ins Elfmeterschießen zu retten und vielleicht doch noch die Sensation zu schaffen.

Für Dänemark wird der Elfmeter in der Verlängerung aber kein Wembley-Trauma werden, so wie für die Deutschen das 2:4 im WM-Finale 1966 gegen England. Dänemark wird zwar auch in 50 Jahren über diese Fußball-EM reden, aber nicht wegen dieser Entscheidung.

Das Erreichen des Halbfinals war eine große fußballerische Leistung, doch der Mannschaftscharakter sowie das Auftreten und die Entwicklung des Teams sind das wirklich Abenteuerliche an dieser EM.

Es begann tragisch mit Christian Eriksens Herzinfarkt im Auftaktspiel gegen Finnland im Kopenhagener Nationalstadion Parken. Bereits hier zeigten die Dänen Klasse, als sie sich schützend um ihren Mannschaftskameraden stellten, während dieser ums Überlegen kämpfte. Danach rappelten sie sich auf und zogen das Spiel noch durch – eine fast übermenschliche Leistung.

Nach diesem traumatischen Erlebnis kämpften die dänischen Spieler sich mit Herzblut zurück in die EM, während sich Eriksen im Krankenhaus zurück ins Leben kämpfte. Welch ein Kontrast zwischen Unterhaltung und der realen Welt.

Mit ihrem ehrlichen und sympathischen Auftritt auf und außerhalb des Spielfeldes gewannen die dänischen Spieler nicht nur die Herzen der eigenen Nation, sondern auch von Fußball-Fans in der ganzen Welt.

In der Stunde der Niederlage standen sie erhobenen Hauptes und mit breiter Brust vor ihren Fans. Sportlich enttäuscht, aber stolz darüber, wie sie als Mannschaft gewachsen waren.

Der Erfolg hat viele Väter, doch einer strahlte über alle hinweg: Kasper Hjulmand wurde mitten in der Corona-Pandemie zum neuen Nationaltrainer ernannt, hatte kaum Möglichkeit, sich mit den Spielern zu treffen – und hat dennoch in den vergangenen zwölf Monaten viel mehr als nur sportlich gute Arbeit geleistet.

Er ist schlichtweg eine Führungspersönlichkeit, von der sich Firmenbosse in allen Branchen eine Scheibe abschneiden sollten. Er hat sich mitten in der Krise vor seine Mannschaft gestellt und hat gezeigt, dass auch in der zynischen Welt des Fußballs Platz ist für einen Humanisten wie Hjulmand (Zitat: Tageszeitung „Information“).

Die Belastung war ihm am Donnerstag bei der abschließenden Pressekonferenz (wieder) anzumerken, als ihm die Tränen kamen und er schlucken musste. „Jetzt fange ich wieder an zu heulen“, sagte er und versuchte erst gar nicht, den starken Mann zu spielen. Im Gegenteil.

Hjulmand legte sogar noch einen drauf, als er seine Mannschaft bat, sich für die Unterstützung der Fans zu bedanken. Die Nationalmannschaft gab der gesamten dänischen Nation sozusagen „standing Ovations“ – dabei lagen die Anhänger ihren neuen Helden aus lauter Dankbarkeit zu Füßen.

Kasper Hjulmand schrieb bereits 2005 gemeinsam mit seinem Trainerkollegen Keld Bordinggaard ein Fußball-Manifest über „Den neuen Weg“ des dänischen Fußballs.

Bei der EM hat er bewiesen, dass er diesen Weg nicht nur beschreiben, sondern mit dem heutigen Team auch umsetzen kann. Daher bleibt zu hoffen, dass der dänische Einsatz bei der EM 21 keine Eintagsfliege war, sondern dass Dänemark bereits im kommenden Jahr bei der WM mit Ehrgeiz und Herz neue Spiele und Freunde gewinnen kann.  

Dänemark mag im Halbfinale der EM verloren haben, doch die Mannschaft um Hjulmand ist dennoch ein Gewinner des Jahres 2021.

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