EU-Recht

Anwalt Stefan Reinel: „Der Rechtsvorbehalt ist Unsinn“

Anwalt Stefan Reinel: „Der Rechtsvorbehalt ist Unsinn“

Anwalt Stefan Reinel: „Der Rechtsvorbehalt ist Unsinn“

Kopenhagen/Brüssel
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Gerichte
Das Landgericht in Flensburg (links) entscheidet nach EU-Recht. Am Gericht in Sonderburg zählen viele der EU-Rechtsakte bei einer richterlichen Entscheidung hingegen nicht. Das hat vor allem bei grenzüberschreitenden Fällen Auswirkungen. Foto: Nordschleswiger

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Fällt nach dem Verteidigungsvorbehalt auch irgendwann der Rechtsvorbehalt? Wenn es nach dem Kopenhagener Rechtsanwalt Stefan Reinel geht, der in Nordschleswig aufgewachsen ist, schaffe dieser Probleme, die es sonst nicht gäbe. Worum es dabei genau geht, erklärt „Der Nordschleswiger“.

Die Auswirkungen des dänischen Rechtsvorbehalts in der EU sind in Dänemark und Deutschland eher weniger bekannt, was oft zu unangenehmen Überraschungen für Unternehmen, aber auch Privatpersonen auf beiden Seiten führt. Einer, der sich damit auskennt, ist Rechtsanwalt Stefan Reinel. Er ist im internationalen und dänisch-deutschen Recht spezialisiert und in Nordschleswig aufgewachsen. „Der Nordschleswiger“ hat mit ihm über die dänische Ausnahme bei der EU-Zusammenarbeit gesprochen. 

„Die rechtlichen Vorbehalte haben praxisrelevante Bedeutung“, sagt Rechtsanwalt Stefan Reinel. Während gewisse Regularien gelten, wie die Freizügigkeit in der Europäischen Union und der freie Austausch von Dienstleistungen, gibt es bestimmte Rechtsvorschriften, die in Dänemark nicht greifen. Reinel spricht von „Rosinenpickerei“. In der Praxis geht es häufig um die Anerkennung von grenzüberschreitenden Entscheidungen.

Stefan Reinel
Stefan Reinel hat sich auf die Unterschiede im deutsch-dänischen Recht spezialisiert. Foto: Advores

„Meiner Meinung nach ist der Hauptgrund für die Vorbehalte Dänemarks gegen die Zusammenarbeit in Rechtsangelegenheiten die mangelnde Kenntnis der Öffentlichkeit über den Zweck und den Inhalt der einschlägigen Rechtsakte. Die meisten Rechtsakte dienen lediglich der Unterstützung einer reibungslosen, effizienten und kostengünstigen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit“, so Reinel.

Viele der Rechtsakte seien für Privatpersonen aber von großer Bedeutung. Etwa die Richtlinie über grenzüberschreitende Prozesskostenhilfe und die Verordnung über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und die Vollstreckung in Erbsachen.

Was bedeutet Rechtsvorbehalt?

Die Rechtsakte umfassen verschiedene Kategorien der Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres: Grenzkontrolle, Asyl und Einwanderung, Zusammenarbeit in Zivilsachen, justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen und polizeiliche Zusammenarbeit sowie allgemeine Bestimmungen über die Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres.

Einige (wenige) der Rechtsakte im Rahmen der rechtlichen Zusammenarbeit werden über sogenannte „Parallelabkommen“ in dänisches Recht umgesetzt.

Dennoch gibt es mehr als 400 Rechtsakte, die von den anderen Mitgliedern der Europäischen Union im Bereich Justiz und Inneres angenommen wurden und an denen Dänemark nicht beteiligt ist.

 

Gravenstein-Fall der „falsche Aufhänger“

Ein aktueller Fall sorgt besonders für Aufsehen. Laut „Bild“-Zeitung ist der Rechtsvorbehalt der Grund dafür, dass im Streit um den Aufenthalt der aus Gravenstein entführten Kinder Dänemark frühere Urteile deutscher Gerichte nicht anerkannt hat. „Der Rechtsvorbehalt Dänemarks ist nicht ausschlaggebend in dem Fall“, sagt Reinel, der den Fall am Rande verfolgt hat. Richtig sei, dass ein dänisches Gericht ein Urteil eines deutschen Gerichts nach dem EU-Recht nicht anerkennen muss, weil es den Rechtsvorbehalt gibt. Die EU-Verordnung  (EU) 2019/1111 über die Anerkennung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung gilt nicht in Dänemark.

Der Gravenstein-Fall ist eigentlich der falsche Aufhänger, um den Rechtsvorbehalt zu erklären.

Stefan Reinel

„Es gibt aber auch noch die Haager Konvention von 1980 über Kindesentführungsübereinkommen, wonach auch Dänemark Urteile anderer Länder, darunter Deutschland, anerkennen muss.“ Die Konvention hält die zivilrechtlichen Auswirkungen internationaler Kindesentführungen fest. Es geht also bei der Frage um das Aufenthaltsbestimmungsrecht nicht um EU-Recht. „Selbst ohne Rechtsvorbehalt würde Dänemark die Kinder vermutlich nicht herausgeben“, so Reinel. Es müsse also weitere Gründe geben, warum so entschieden wurde. Mittlerweile hat auch ein Eilverfahren an einem Hamburger Gericht dem Vater zugesprochen, dass die Kinder bei ihm bleiben dürfen. 

„Der Fall ist eigentlich der falsche Aufhänger, um den Rechtsvorbehalt zu erklären“, sagt Reinel und gibt andere konkrete Beispiele aus dem Alltag, von denen auch Menschen in Nordschleswig oder Unternehmen betroffen sind, die grenzüberschreitende Verknüpfungen haben. 

Beispiel Erbrecht

„Ein Punkt ist zum Beispiel das angesprochene Erbrecht“, sagt Reinel. „Was passiert, wenn es einen deutsch-dänischen Erbfall gibt?“ Die Antwort: Es ist kompliziert. Der Rechtsanwalt erläutert das Problem an einem einfachen Fall. Ein Mann stirbt in Deutschland, hat aber ein Sommerhaus in Dänemark. Die Erben sitzen in Dänemark oder Deutschland und wollen gerne das Sommerhaus bekommen. Doch muss man sich dafür an ein deutsches oder dänisches Gericht wenden? Reinel: „Entscheidungen von Gerichten in anderen EU-Ländern müssen nach der Erbrechtsverordnung in der EU gegenseitig anerkannt werden. Aber in Dänemark gilt sie nicht.“ Die Folge: Die Erben müssen in beiden Ländern ein Verfahren anstoßen. „Am Ende kommen sie an das Sommerhaus, aber es ist kompliziert.“

Umgekehrt sei es fast noch schlimmer. Stirbt der Mann in Dänemark, hat aber eine Eigentumswohnung in Berlin, so gehen die Erben zum dänischen Erbschaftsgericht, um einen Erbschein zu bekommen. In Deutschland werde dieser aber nicht anerkannt. „Das ist alles furchtbarer Fummelkram“, so Reinel. 

Entscheidungen von Gerichten in anderen EU-Ländern müssen nach der Erbrechtsverordnung in der EU gegenseitig anerkannt werden. Aber in Dänemark gilt sie nicht.

Stefan Reinel

Beispiel Konkursverordnung

Ein anderes Beispiel sei die Konkursverordnung. Gehe ein dänisches Unternehmen pleite, das eine deutsche Tochtergesellschaft hat, könne der dänische Insolvenzverwalter nicht einfach etwa finanzielle Daten des Tochterunternehmens bekommen oder Waren in Deutschland in Besitz nehmen. „Die zuständigen Behörden würden das Gesuch ablehnen.“ Die Folge hier: Auch in Deutschland müsste ein Konkurs eröffnet werden.

Grenzüberschreitende Insolvenzverfahren sind daher teurer und ineffizienter als nötig. Der Grund: Die Verordnung Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren gilt nicht in Dänemark. Dänemark hat versucht, mit der EU ein Parallelabkommen zu dem Rechtsakt zu erreichen. Diesen Antrag hat die Kommission abgelehnt.

Beispiel Ehe und Scheidung

Die Regelungen über die grenzüberschreitende Anerkennung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen finden sich in der „Brüssel Ia“-Verordnung, an der Dänemark aufgrund einer Parallelvereinbarung teilnimmt. Die Regelungen darüber, welches Recht ein Gericht anwenden muss, finden sich für die anderen EU-Länder in den „ROM I“- und „ROM II“-Verordnungen. Diese Verordnungen regeln das Internationale Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft.

Klingt klobig, sorgt aber für Probleme. Einfach gesagt bedeutet es: Bevor eine Streitigkeit entschieden werden kann, muss entschieden werden, das Recht welchen Landes auf die Angelegenheit angewendet werden soll. Das Recht, das darüber entscheidet, welches materielle Recht auf eine grenzüberschreitende Angelegenheit anwendbar ist, wird „Internationales Privatrecht“ (IPR) genannt.

„Das dänische IPR und das europäische IPR sind nicht dasselbe“, so Reinel. Während alle anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit „ROM I“ und „ROM II“ arbeiten, um die Rechtswahl festzulegen, hat Dänemark seine eigenen Regeln. „Und weil Dänemark nicht dabei ist, können Gerichte der Länder auch zu verschiedenen Ergebnissen kommen, welches Recht gilt“, so der Anwalt.

Auch bei der Rechtswahl für Ehen gelten in der EU und Dänemark unterschiedliche Regeln. Ein Beispiel ist laut Reinel eine grenzüberschreitende Ehe. Lasse sich das Paar scheiden, egal ob wohnhaft in Deutschland oder Dänemark, dann würde der Besitz, etwa Häuser, aufgeteilt. „Wer was bekommt, hierüber können deutsche Gerichte zu anderen Ergebnissen kommen als dänische.“

Es ist blöd, dass wir nicht dabei sind. Die EU-Rechtsregeln sind praktisch. Der Rechtsvorbehalt schafft Probleme, die wir sonst nicht hätten. Er ist Unsinn.

Stefan Reinel

Probleme mit Parallelabkommen

Selbst mit Parallelabkommen ist es nicht immer einfach. Die EU-Verordnung „Brüssel Ia“ sortiert etwa die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. „Da ist Dänemark wegen des Vorbehalts nicht dabei. Es gibt hier ein Parallelabkommen mit Deutschland. So ist zum Beispiel die Vollstreckung von Urteilen, wo es um die Zahlung von Geldbeträgen geht möglich. Das ist aber sehr holperig.“

Ähnlich sieht es bei einem laut Reinel sehr starken europäischen juristischen Werkzeug zur Beitreibung ausstehender Forderungen aus. Die Verordnung Nr. 805/2004 vom 21. April 2004 über einen europäischen Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen aber gilt in Dänemark nicht. „Die Verordnung zielt darauf ab, grenzüberschreitende Rechtsstreitigkeiten über unbestrittene Geldforderungen zu vereinfachen und zu beschleunigen und die Prozesskosten zu senken.“ Die Anwendung der Verordnung in Dänemark würde sowohl für Unternehmen in Dänemark als auch in Deutschland Vorteile bringen, ist Reinel sicher. „Die Unternehmen können nach dem vereinfachten europäischen Mahnverfahren klagen, unabhängig davon, ob im nationalen Recht des anderen Mitgliedstaates ein Mahnverfahren existiert. Dies könnte den Unternehmen erhebliche Prozesskosten ersparen.“ 

Bessere Aufklärung über Auswirkungen

Für Bürgerinnen und Bürger ohne Verbindungen ins Ausland habe der Rechtsvorbehalt keine direkten Auswirkungen, sagt Reinel. Fan der Regelung ist er aber nicht. „Es ist blöd, dass wir nicht dabei sind. Die EU-Rechtsregeln sind praktisch. Der Rechtsvorbehalt schafft Probleme, die wir sonst nicht hätten. Er ist Unsinn.“ Es gebe keine sachliche Begründung, und am Ende verliert Dänemark eher Souveränität, als dass es sie behält. Auch auf EU-Ebene sei man nicht besonders glücklich darüber, dass Dänemark diesen Sonderweg geht, so der Fachanwalt. 

Reinel fordert mehr Anstrengungen Dänemarks, über die negativen Folgen für Einzelpersonen und Unternehmen in Dänemark zu informieren. „2015 ging die öffentliche Abstimmung über die Abschaffung des dänischen Vorbehalts gegen die rechtliche Zusammenarbeit knapp verloren. Die Regierung sollte aktiv über die Vorteile einer Teilnahme an der rechtlichen Zusammenarbeit in der EU informieren und dann anschließend eine neue Abstimmung über die rechtliche Zusammenarbeit in der EU durchführen.“

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