Porträt

Suche nach Identität: Als Gerhard zu Gershom wurde

Suche nach Identität: Als Gerhard zu Gershom wurde

Suche nach Identität: Als Gerhard zu Gershom wurde

Apenrade/Flensburg
Zuletzt aktualisiert um:
Im Jahr 2007 rekonvertierte Gershom Jessen zum Judentum. Foto: Cornelius von Tiedemann

Diesen Artikel vorlesen lassen.

Warum fühle ich mich dem Judentum mehr zugehörig als meinem ursprünglichen Glauben? Die Frage konnte sich Gershom Jessen beantworten, als er begann, seine Familiengeschichte aufzuarbeiten. Seit Jahren ist diese Religion, mit allem wofür sie steht, Teil seines Alltags und Selbstverständnisses.

Auf die Frage nach dem wichtigsten Fakt über das Judentum antwortet Gershom Jessen ohne Umschweife. Ganz so, als habe er diese Frage erwartet. „Es ist eigentlich ganz banal. Das Sprichwort ,Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu’, sagt alles.“ In Osteuropa habe man diese Aussage noch einmal verkleinert. „Sei ein Mensch“, heiße es da. Man könne dies als die grundlegende jüdische Philosophie bezeichnen. Alles andere baue auf diesem Satz auf – auch der gesamte Inhalt des Talmuds führe darauf zurück.

Dieser Satz sei auch immer ein guter Einstieg, wenn er vor Schulklassen steht – in Schleswig-Holstein wird er regelmäßig von Schulen eingeladen – „95 Prozent haben keine Ahnung, was das Judentum eigentlich ist, da hat dieser Satz eine enorme Wirkkraft, er macht viel auf“, teilt Jessen seine Erfahrungen mit mir. 

Versteckt

Es ist ein gewöhnlicher Dienstagvormittag im Februar, an dem Jessen mich in dem jüdischen Gemeindezentrum in der Flensburger Innenstadt empfängt. In den Händen halte ich eine Schachtel mit süßem Inhalt: Brunsviger-Kuchen. Eine Konditoren-Spezialität von der Insel Fünen (Fyn), die Jessen nur zu gerne isst und die „hier leider so schwer zu bekommen“ ist, wie mir der gebürtige Flensburger vorab am Telefon verraten hat.

Trotz guter Wegbeschreibung laufe ich einige Male auf und ab. Kontrolliere die Adresse. Ein zweites Mal. Sehe mich um. Ich finde keinen Hinweis darauf, der mir bestätigt, dass in diesem Hinterhaus, vor dem ich richtigerweise stehe, eine jüdische Gemeinde wirkt. Sich trifft. Gottesdienste feiert. Kurse anbietet. Ein Mann erscheint an der Tür. Er bittet mich herein.

Ich führe ein intensiveres Leben. Mir ist nichts egal.

Gershom Jessen

Identitätsfragen

Geboren wurde der heute 70-jährige Pattburger als Gerhard Jessen. Er ist Teil der dänischen Minderheit in Flensburg. Der Name Gershom ist ein Resultat seiner genealogischen Forschungen, denen er sich in den 1990er-Jahren widmete. Dabei stieß er auf seine jüdischen Wurzeln mütterlicherseits. Nun endlich verstand er, warum er sich, trotz protestantischer Taufe und Mitgliedschaft in einer evangelischen Gemeinde, dem Judentum seit jeher zugehörig fühlte.

Die Idee zur Recherche erklärt Jessen mit dem diffusen familiären Hintergrund seiner Mutter, der immer rätselhaft blieb und ihn neugierig machte. „Wir wussten nie so genau, wo sie eigentlich herkam. Sie hat nie darüber gesprochen.“ Auch habe sie „immer merkwürdige Worte und Bräuche gehabt, die man so nicht kannte“. Jessen erzählt, zu Neujahr habe seine Mutter Äpfel in Honig getaucht und diese dann gegessen – eine alte, jüdische Tradition. Auch jiddische Wörter wie „meschugge“ seien ihm aufgefallen. 

In einer Vase auf dem Tisch befinden sich Israel-Fahnen. Foto: Cornelius von Tiedemann

Aus dem Kirchenbuch von Düppel (Dybbøl) ging hervor, wann die jüdische Familie seiner Mutter – die ursprünglich aus dem südfranzösischen Lyon stammte – sich in Dänemark taufen ließ. Seine Abstammung ließ er sich daraufhin in der Nationalbibliothek in Kopenhagen beglaubigen. Damit war die Entscheidung gefallen, zum Judentum überzutreten und er nahm Kontakt zur jüdischen Gemeinde in Kiel auf. Die Gemeinde in Flensburg gab es zu dieser Zeit noch nicht. 

Zunächst wurde er abgelehnt. Das aber sei Teil des natürlichen Aufnahmeprozesses, erklärt Jessen meinem verdutzt dreinschauenden Gesicht. „Man wird dreimal abgewiesen, und erst beim vierten Versuch findet man Gehör. So ist der normale Ablauf. Man muss zunächst erst mal beweisen, dass man es ernst meint und am Ball bleibt.“

Sein Rabbiner riet ihm dazu, den ganzen Konversionsprozess zu durchlaufen, um zu lernen. Gemusst hätte er nicht, schließlich war er nach jüdischem Gesetz bereits Jude –  da seine Mutter geborene Jüdin war, ist er es immer gewesen. Also erhielt Jessen Religionsunterricht. Ebendieser Rabbiner war es auch, der dem Neuling zu dem Namen „Gershom ben Abraham“ riet. Auf Deutsch beschreibt ihn dieser Name nämlich als einen aus der Fremde zurückgekehrten Sohn Abrahams. So ist es in dem Buch „Juden in Flensburg“ von Bettina Goldberg nachzulesen. Passender kann ein Name wohl kaum sein.

Wenn er vor Schulklassen steht, beginnt er oft mit dem Satz: „Sei ein Mensch“. Foto: Cornelius von Tiedemann

Die Rekonversion

Der Haupteingang zum Gemeindezentrum ist gleichzeitig eine Art Schleuse, die ich passieren muss, bevor ich die Räumlichkeiten des Gemeindezentrums betreten darf. Das Glas rund um die Eingangstür ist schusssicher. Die Bedrohungslage der Juden in Deutschland ist real. Jessen selbst würde gerne einen jüdischen Stern dort hängen haben – von außen sichtbar. Andere Gemeindemitglieder möchten das nicht. Ihnen ist das zu unsicher. Ich verstehe sie gut. Lieber auf Nummer sicher gehen. 

Die Vorbereitungszeit auf die Konversion dauerte zehn Jahre. Zehn Jahre, in denen der Anwärter sich bereits in der Gemeinde engagierte. 2007 dann tritt Jessen in Berlin dem Judentum bei. Nun konnte der Däne endlich auch offiziell in die jüdische Gemeinde eintreten. 2008 wurde er Mitglied des Vorstands, seit 2010 ist er Geschäftsführer der Gemeinde. Berufliche Verpflichtung hat Jessen seit seinem Eintritt in den Ruhestand 2016 keine mehr.

Mehr zum Thema im „Mojn Nordschleswig“-Podcast

Gershom Jessen stellt die Jüdische Gemeinde Flensburg vor und spricht über die aktuelle Situation für Jüdinnen und Juden seit den Terrorangriffen der Hamas. Die Folgen 6 und 8 mit Jessen sind direkt hier zu hören – oder in jeder gängigen Podcast-App, kostenlos und jederzeit. Einfach „Mojn“ suchen.

Der Artikel geht unterhalb des Podcast-Players weiter!

Ich glaube, die jüdische Religion kann mehr leisten als andere. Im Judentum ist die Lebensweise im Grunde viel wichtiger als die Religion.

Gershom Jessen

Ich sehe mich in dem Raum um, in dem wir jetzt stehen. Es gibt zwei lange Reihen aus Tischen, die parallel zueinander angeordnet sind. Hier sitzt man zusammen, feiert Feste und Gottesdienste. Ich stelle mir vor, wie das aussehen könnte. Drei dieser Tische sind gedeckt. Kaffeetassen, Kekse und Teller stehen bereit. „Im Nebenraum findet gerade Deutschunterricht statt“, erzählt Jessen. „Die haben gleich Pause.“ In diesem Kurs sitzen viele Ukrainerinnen und Ukrainer. Die Gemeinde engagiert sich, wo sie kann. Das sei Teil des jüdischen Selbstverständnisses, erklärt mir der Gastgeber. 

Auf einem kleinen Tisch, an der Wand zwischen Garderobe und Toilette, liegen Infobroschüren und Infoblätter. Über Israel, das Judentum und das Engagement der Flensburger Gemeinde. Ich überlege, einige einzustecken.

In jeder Ecke gibt es was zu entdecken. Foto: Cornelius von Tiedemann

Das Herzstück der Gemeinde

Nachdem Jessen seine Schullaufbahn an einer dänischen Schule in Flensburg abgeschlossen hatte, begann er seine Ausbildung bei der Polizei, wo er bis 1987 aktiv blieb. Im Folgejahr nahm er seine Arbeit beim SSW (Südschleswigscher Wählerverband) als hauptamtlicher Mitarbeiter auf. Schon zuvor war Jessen politisch ehrenamtlich aktiv gewesen.

Jessen zeigt auf den Nebenraum und fragt, ob ich die Torarollen der Gemeinde sehen möchte. Ich möchte sehr gerne. Dafür bitten wir den Deutschkurs, kurz stören zu dürfen. Mir ist das etwas unangenehm. Am Ende des Raumes werden die beiden gespendeten Kostbarkeiten in einem Schrank aufbewahrt. Routiniert erzählt Jessen die Geschichte dieser Schriftstücke, beschreibt, wie sie ihren Weg zur Gemeinde fanden. Auch die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer hören andächtig zu – interessiert an dem unerwarteten Exkurs. Es scheint eine willkommene Unterbrechung des Unterrichts zu sein. Nach ungefähr zehn Minuten verabschieden wir uns wieder von der Gruppe.

Im Judentum zu Hause

Bente und Randi heißen Jessens Töchter, die aus seiner Ehe hervorgegangen sind. Beide leben in Dänemark und sind beruflich erfolgreich. Die Ehe hingegen besteht nicht mehr. Das Paar ließ sich 2003 scheiden. Heute lebt Jessen gemeinsam mit seiner Partnerin Susanne Frodermann in Pattburg (Padborg). Auch bei ihr gibt es mütterlicherseits Bezüge zum Judentum.

Wir verlassen den Unterrichtsraum und folgen einem kurzen Gang. Der Flur endet in einer Art kleinem, rundem Wohnzimmer. Hell vom Tageslicht, das durch die hohen Fenster fällt. Eine Lichtung, denke ich. Rundherum Bücherregale, Vitrinen, Relikte. Mein Blick findet keine Ruhe. Bleibt hängen. Gleitet weiter.

„Shabbat Shalom” Foto: Cornelius von Tiedemann

Auf die Frage, worin sich das Judentum für ihn von anderen Glaubensrichtungen unterscheidet, erklärt Jessen: „Ich glaube, die jüdische Religion kann mehr leisten als andere. Im Judentum ist die Lebensweise im Grunde viel wichtiger als die Religion.“ Das Judentum sei eine Lebenseinstellung, eine Art Lebensführung. Sie sei Teil von allem und spiegele sich in dem Umgang mit sich selbst, der Umwelt und den Mitmenschen wider. Der Südschleswiger ist überzeugt, dass seine Religion sein Handeln positiv beeinflusst.

Inmitten der Lichtung steht ein runder Tisch. Ebenfalls gedeckt. Dieses Mal für uns. Die Teller, die Löffel und die Tassen sind aus Kunststoff. Zur einmaligen Verwendung. Würde ich das Geschirr benutzen, müsste es danach wieder geweiht werden. Ich bin schließlich keine Jüdin, und das Geschirr wäre nach meiner Benutzung nicht mehr koscher. Es sind aber nur noch Restbestände, erklärt Jessen. Sie seien auf recycelbare Alternativen umgestiegen. Hätte ich nicht daran denken müssen, eine eigene Tasse mitzubringen, um Ressourcen zu schonen, überlege ich. 

Gershom Jessen gibt einen kleinen Exkurs zur Geschichte der Torarollen. Foto: Cornelius von Tiedemann

Ich solle unbedingt die verschiedenen Leckereien probieren, die auf dem Tisch liebevoll angerichtet bereitstehen. Alles sind koschere Spezialitäten aus Israel, sagt Jessen. Ich bin neugierig. Als ich seiner Empfehlung nachgehe, werde ich nicht enttäuscht.

Hadern

Die jüdischen Werte haben eine starke Auswirkung auf seinen Alltag. „Ich führe ein intensiveres Leben. Mir ist nichts egal. Auch nicht, was ich einkaufe.“ Er achte darauf, dass seine Nahrungsmittel koscher sind, frei von chemischen Farb- oder Zusatzstoffen. Ökologisch. Man ist aber nicht immer so streng mit sich, fügt Jessen mit einer lockeren, abwinkenden Handbewegung hinzu. Er nimmt den Brunsviger vor sich als Beispiel. „Esse ich den jetzt, muss ich das mit mir ausmachen, kurz in mich gehen.“ Hadern nennt sich das. Es ist ein kurzes Besinnen – ein mit sich selbst ins Gericht gehen. Nachsichtig aber – denn das ist der „Ewige“ auch. 

Alles sei immer Auslegungssache, oft gehe es darum, die jeweilige Gewichtung in bestimmten Situationen abzuwägen. So sei Rauchen gestattet, wenn man sich dabei besser auf das Studium der Tora konzentrieren kann. Es gehe außerdem um Benehmen und den freundlichen Umgang miteinander. Im Grunde sei es ein bewussteres Leben, das er führe. 

Der von mir mitgebrachte Brunsviger steht auf dem Tisch. Wir rühren ihn aber nicht an. Sollte ich vielleicht eine Pause anbieten? Stattdessen kommen wir von einem Thema aufs nächste. Schweifen ab. Schwenken zurück. Es bleibt kaum Zeit für den Kuchen. Erst recht nicht, wenn man ihn bewusst genießen will. Um danach zu hadern. Ich aus anderen Gründen als er.

Theresa Müller leitet den Deutschunterricht. Foto: Cornelius von Tiedemann

Nichtstun

Jessen ist mehrmals die Woche im Gemeindezentrum. Engagiert sich, hilft, wo er kann. Er ist häufig unterwegs, hat viel um die Ohren. Dabei kommt auch die Familie nicht zu kurz. Seinen sechs Enkelkindern, den beiden Töchtern und natürlich seiner Partnerin gebührt ein Großteil seiner Zeit. Auch heute hat er ein volles Programm: Für den Nachmittag hat sich eine Schülerin angemeldet, auch sie möchte ein Interview mit ihm führen. 

Der Sabbat aber bleibt Ruhetag. „Da mache ich nichts. Ich spiele höchstens mit meinen zwei Katzen.“ 

Den Kuchen soll er am Abend mit seiner Lebensgefährtin genießen – vielleicht der Schülerin ein Stück anbieten. Ich packe zusammen. Drei Stunden hat Gershom Jessen mir einen Einblick in das gegeben, was ihn bewegt. Und mir jede Menge neues Wissen über das Judentum geschenkt. Ich bin dankbar.

Mehr lesen
veganer Burger

Leitartikel

Fleischlose Revolution: Supermärkte ändern sich

Apenrade/Aabenraa In Berlin eröffnet die Supermarkt-Kette Rewe den ersten Supermarkt ganz ohne tierische Produkte, während man als Vegetarier oder Veganer Produkte ohne tierische Inhaltsstoffe in nordschleswigschen Läden oft lange und mitunter vergeblich suchen muss. Dänemark will bei dem Thema zwar aufholen, hinkt dem Nachbarn aber um Jahre hinterher. Es muss kein Fleisch auf den Teller, schreibt Gerrit Hencke in seinem Leitartikel.