Sylt im Herbst

Sina Beerwald über zehn Orte, die auch bei Schietwetter ein Muss sind

Sina Beerwald über zehn Orte, die auch bei Schietwetter ein Muss sind

Zehn Orte, die auch bei Schietwetter ein Muss sind

SHZ
Sylt
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Foto: imago/Blickwinkel/shz.de

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Für shz.de hat die Erfolgsautorin zehn Ausflugtipps aus 111 Orten auf der Insel ausgesucht – für Urlauber, aber auch für Insulaner, die jetzt Zeit haben, ihre Insel wieder zu entdecken.

Sina Beerwald, 1977 in Stuttgart geboren und erfolgreiche Autorin von inzwischen elf Romanen, hat Sylt vor 15 Jahren zu ihrer Heimat gemacht. Unter anderem ist in dieser Zeit ihr Buch „111 Orte auf Sylt, die man gesehen haben muss“ erschienen.

Für shz.de hat die Autorin jetzt zehn Ausflugstipps aus ihrem Buch ausgesucht, die auch im Herbst und Winter bei Sturm und Regen funktionieren. Sehr persönlich beschreibt sie, warum die einzelnen Sehenswürdigkeiten sie immer wieder anziehen und begeistern, sie erzählt die Geschichte von Orten, Häusern, Persönlichkeiten auf der größten nordfriesischen Insel.

Es sind Tipps für Urlauber, die Sylt in der ruhigen Herbst- und Winterzeit entdecken wollen, aber auch für Insulaner, die jetzt Zeit haben, in die Besonderheiten und die Geschichte ihrer Insel mal wieder einzutauchen.


Die Bernsteinküste

Kaum ist der Sturm vorüber, gehe ich an den Weststrand und richte meinen suchenden Blick auf die schwarzbraune Linie am Flutsaum, die aus Sprockholz besteht. Wo diese verwitterten Holzstückchen sind, ist der Bernstein oft nicht weit. Das Gold des Meeres wird überwiegend im Winterhalbjahr angeschwemmt, denn bei vier Grad Celsius hat das Meerwasser seine größte Dichte, sodass der Bernstein an der Oberfläche treibt. Kommt ein Sturm hinzu, verfängt sich das funkelnde Mineraloid im Seetang und wird an den Strand gespült. Also künftig nicht mehr über den Sturm klagen, sondern bei nachlassendem Wind sofort an den Strand – vielleicht liegt dort das große Sucherglück.


Das Eisboot

Böse Zungen behaupten, der Verein der Morsumer Kulturfreunde habe mit den fünf lebensechten Figuren in einem Holzboot am Ortseingang von Morsum eine natürliche Verkehrsbremse geschaffen, denn wer erstmals hinter der lang gezogenen Kurve unvermittelt auf dieses ungewöhnliche Denkmal blickt, steigt reflexartig auf die Bremse. Durch meine Recherchen zu meinen historischen Sylt-Romanen, habe ich jedoch einen anderen Blick auf die wackeren Männer, die dort voller Symbolkraft im Eisboot stehend an eine Zeit vor 1927 erinnern, als der Hindenburgdamm noch nicht erbaut war. Im Winter, wenn das Wattenmeer so zugefroren war, dass kein Schiff mehr Nahrungsmittel, lebensnotwendige Medikamente und wichtige Post anliefern konnte, kämpften sich die Männer mit ihrem Boot über Eisfelder und durch Wasserlöcher zum Festland hin – und verloren dabei nicht selten ihr Leben.


Der Dünenfriedhof

Auf Friedhöfen halte ich mich nicht so gerne auf, aber der Lister Dünenfriedhof bildet eine Ausnahme – und das bei jedem Wetter. Denn er ist ungewöhnlich, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Es ist ein Friedhof, der sich auf verschiedenen Höhenebenen an die Gegebenheiten der Dünenlandschaft anpasst, Urnengräber befinden sich neben Sarggräbern, zu einigen Ruhestätten führen keine festgelegten Pfade, vielmehr muss man einen Weg wählen – ganz wie im Leben selbst. Außerdem erzählen die Grabsteine Sylter Geschichte. Zum Beispiel die des Weltluftfahrtpioniers Wolfgang von Gronau, dem 1932 von List auf Sylt aus die erste Weltumrundung mit einem Flugboot gelang. Die sogenannten Helgolandgräber erinnern an die Zeit, als die Helgoländer Bevölkerung 1947 unter anderem in List auf Sylt Zuflucht gesucht hatten, weil die Engländer bei der ‚Operation Big Bang‘ drohten, nicht nur die Bunker- und Militäranlagen, sondern die gesamte Insel in die Luft zu sprengen. Viele Helgoländer sind auf Sylt geblieben und haben auf dem Lister Dünenfriedhof ihre letzte Ruhe gefunden.


Die Ralf-Regel

Die Hörnumer Promenade ist auch bei Schietwetter ein beliebter Spazierweg. Ein Ehepaar bleibt im Regen stehen und diskutiert mit Blick auf die beiden Inseln, die in Sichtweite liegen. Es muss sich um Föhr und Amrum handeln, so viel ist ihnen schon mal klar. Doch welche Insel ist welche? „Das da rechts muss Föhr sein.“ „Nein, das ist Amrum.“ „Ach Quatsch, das ist Föhr.“ Ich geselle mich dazu und frage: „Schon mal was von Ralf gehört?“ Der irritierte Mann fragt: „Wer ist Ralf?“ Ein Name, den man sich merken muss, erkläre ich ihm. Zumindest in diesem Fall. Denn von Hörnum aus gesehen gilt die RALF-Regel: rechts Amrum, links Föhr. So einfach ist das – sofern man sich die Eselsbrücke merken kann.


Die St.-Peter-Kirche

Sie ist die einzige Reetdachkirche der Insel, versteckt sich mitten in Rantum und hat eine bewegte Geschichte hinter sich, im wahrsten Sinne des Wortes, von der ich hier berichten möchte: Rund alle hundert Jahre musste nämlich eine „neue St. Peter“ gebaut werden, weil der Vorgängerbau entweder vom Meer weggespült oder vom Dünensand begraben worden war. Zum Gottesdienst am 18. Juni 1801 mussten „die Menschen schon durch das Fenster einsteigen, weil der Sand des Gebäude zugeschüttet hatte.“ Ich liebe es, in historischen Zeitungen und Berichten zu stöbern und mein Herz schlägt höher, wenn ich kuriose Bekanntmachungen wie diese finde: „Kirche zu verkaufen“ lautete das knappe Angebot und bei der Versteigerung am 23. Juli 1801 erhielt schließlich der Schiffer Ebe Pohn für 52 Reichstaler und 16 Schillinge den Zuschlag. Die Kirchenmauern ließ er abtragen und verwendete sie zum Bau seines Hauses in Westerland-Südhedig, Teile des Altars schmückten seine Schiffskajüte. Zuletzt wurde die Kirche 1964 neu erbaut – dieses Mal auf sicherem Grund und Boden, mitten im Ort – allerdings reetgedeckt. Ist es die nachgesagte Trutzigkeit der Friesen oder ihr Gottvertrauen trotz aller erlebter Naturgewalten? Ein Funkenflug, und die Kirche ist wieder in Gefahr.


Das Altfriesische Haus

Wenn es draußen mal wieder regnet und stürmt, denn träume ich von einem Alkoven – ein kojenartiges, in die Wand eingelassenes Bett. Bewundern kann ich das immerhin im Museum Altfriesisches Haus in Keitum, denn dort gibt es zwei solcher Betten aus dem 18. Jahrhundert. In denen darf man natürlich nicht Probe liegen, aber man bekommt eine Idee davon, wie Schlafen auf Friesisch früher funktionierte. Wie romantisch, wie bequem, so denkt man. Das Gegenteil ist der Fall. Geschlafen wurde in halb aufrechter Position mit vielen Kissen im Rücken. Umdrehen konnte man sich auch nicht, denn da lagen noch bis zu drei weitere Personen im Bett – Mäuse wurden nicht gezählt, denn die fanden den trockenen Hohlraum unter der Matratze toll, weil dort die Kartoffeln lagerten. Die Mäuse im Sinne der Wertsachen und Ersparnisse lagen übrigens zum Schutz vor Dieben auf dem Regalbrett über dem Kopfende des Bettes – eben auf der hohen Kante.


Die Schokoladenmanufaktur

Bei Schietwetter sehne ich mich nach einer Tasse heißer Schokolade, einem Stück Kuchen und dann fühle ich mich gleich wie im Paradies. Doch wer ahnt schon, dass dieses Paradies mitten im Tinnumer Gewerbegebiet liegt? Hier kann ich bei der gläsernen Produktion zusehen, wie Schokoladen und Pralinen hergestellt werden. Meersalz, Hanf und rosa Pfeffer – keine noch so ausgefallene Zutat ist ungewöhnlich genug, wenn es um die Kreation der Sylter Schokolade geht. Angefangen hat alles 1966 mit der Idee von Ingrid und Willi Langmaack, in der Westerländer Strandstraße ein Café im Wiener Kaffeehausstil zu gründen. Gerechnet haben sie nur nicht mit dem Hochzeitsgeschenk der Handwerker: einen frisch verlegten Estrich im künftigen Café. Da die Privaträume allerdings über dem Café liegen, mussten die Frischvermählten zurück zu den Eltern und die Hochzeitsnacht in den Kinderzimmern verbringen. Unvergessen auch die Geschichte eines Paares, das sich im nebenan gelegenen Kino den Film „Chocolat“ ansah. „Jetzt müsste man den Schlüssel zum Café Wien haben“, seufzte der Mann am Ende der Vorstellung. Was ein Zufall, das Tania Langmaack direkt hinter ihnen saß und das Paar spontan zu einem mitternächtlichen Besuch im süßen Paradies einlud.


Das Schiffswrack

Wenn ich die „Mariann“ besuchen gehe, ist mir das Wetter gleichgültig. Wichtig ist nur, dass Ebbe herrscht, ansonsten halte ich vergeblich Ausschau nach den Überresten des schwedischen Dreimastschoners, der etwa zweihundert Meter vom Strand entfernt vor dem Weißen Kliff liegt. Doch wie kam dieses Schiff überhaupt dorthin? Es ist nicht die abenteuerliche Geschichte eines Schiffes, das im Sturm vor der Küste sank, wie man vielleicht annehmen könnte – nein, es waren zwei Sylter, die 1961 auf die Idee kamen, aus dem ehemaligen Getreide-Transportschiff ein schwimmendes Café im Munkmarscher Hafen zu machen. Doch die Behörden nahmen den Syltern den Wind aus den Segeln, als sie das Schiff bereits im Schlepptau hatten. Wohin also nun? Kurzerhand gingen sie im Wattenmeer vor dem Weißen Kliff vor Anker. Hier wurde die Mariann zum inoffiziellen Partyschiff, bis 1981 ein Feuer auf dem Schiff ausbricht. Ob Brandstiftung oder zu viel Alkohol bleibt ungeklärt.


Die St.-Christopherus-Kirche

Diese Kirche ist ungewöhnlich – in jeglicher Hinsicht. Das 1997 neu erbaute Gotteshaus bildet einen Schiffsrumpf nach, die Kirchenbänke stehen im elliptischen Innenraum seitlich zum Altar und verstärken so meinen Eindruck, mich in einem Schiff zu befinden. Ungewöhnlich ist auch der in den Boden eingelassene, kreuzförmige Taufbrunnen, in den der Pfarrer bis zum Knie einsteigen und den Täufling untertauchen kann. Noch ungewöhnlicher ist aber die Geschichte der katholischen Kirche auf Sylt. Der zuständige Bischof muss wohl buchstäblich vom Glauben abgefallen sein, als er 1895 die Bitte um einen Kirchenbau auf Sylt erhielt – für einen, in Worten: einen(!) Katholiken. Bei diesem handelt es sich um Wenzel Wohner, der als österreichischer Soldat der Liebe zu einem Sylter Mädchen wegen auf das flache Eiland gezogen ist. Er vermisst seine Berge, aber ein Leben ohne katholischen Gottesdienst auf einer durch und durch protestantischen Insel geht für ihn gar nicht – also muss eine Kirche her. Keinen Pfennig gebe er dazu, antwortet der Bischof – und setzt auch gleich die Begründung hinzu: Eine solche Kirche solle ja nur die Katholiken zum Bade nach Westerland ziehen – auf eine Insel ohne Moral. Offenkundig hatte Sylt bereits früh seinen Ruf weg. Aber Wenzel Wohner ließ nicht locker, startete einen erfolgreichen Spendenaufruf in der Zeitung und am 7. Juli 1896 konnte die katholische Kapelle in der Neuen Straße eingeweiht werden.


Die Arche Wattenmeer

Bekanntlich war die Arche laut Bibel angesichts der Sintflut der Rettungsort für Mensch und Tier. Wenn es heute in Strömen gießt, ist die Arche Wattenmeer in Hörnum ein perfekter Zufluchtsort. Jeder Besuch ist anders, ich entdecke immer Neues auf den 260 Quadratmetern Ausstellungsfläche, und die Mitmachstationen laden auch Kinder dazu ein, den Lebensraum Wattenmeer, der seit 2009 zum Unesco Weltnaturerbe gehört, zu erforschen. Das Holzschiff als zentraler Teil der Ausstellung symbolisiert die Arche und unterstreicht das Motto: „Schöpfung bewahren, Verantwortung übernehmen.“ Wie passend, dass wir uns in einer ehemaligen Kirche befinden, die 2013 zum Nationalpark-Haus umgebaut wurde. Wer Krebsen, Seeskorpionen und anderen tierischen Wattenmeerbewohnern einmal nahekommen möchte, und schon immer wissen wollte, was Trottellummen und Knutts sind, sollte unbedingt in der Arche Wattenmeer in Hörnum vorbeischauen – nicht nur an Regentagen.

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