Leitartikel

„Kommt ein Vogel geflogen“

Kommt ein Vogel geflogen

Kommt ein Vogel geflogen

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Apenrade/Aabenraa
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Die SVM-Regierung hat ihre Mehrheit verloren. Die neue parlamentarische Situation auf Christiansborg analysiert der frühere Chefredakteur Siegfried Matlok. Die Wette gilt: Die Regierung wird nicht mehr bis zum letzten Tag regieren ...

Die Statik auf Christiansborg hat sich Dienstag verschoben. Ob politisch verhängnisvoll, bleibt abzuwarten, aber die Tatsache, dass der Venstre-Abgeordnete Mads Fuglede und der parteilose Kim Edberg Andersen (früher Ny Borgerlige) gleichzeitig der Fraktion der Dänemarkdemokraten (DD) beigetreten sind, erschüttert das Gleichgewicht. Eine akute Sturz-Einsturz-Gefahr liegt zwar nicht vor, doch der Verlust der innenpolitischen (ohne die nordatlantischen Mandate) Mehrheit für die SVM-Regierung signalisiert schwere See für Mette Frederiksen, Lars Løkke Rasmussen und nicht zuletzt für Troels Lund Poulsen, der fast schon für Venstre SOS funken muss.

Die große Siegerin ist DD-Chefin Inger Støjberg, die nun bei der Anzahl der Mandate im Folketing den dritten Rang einnimmt und die vor allem mit Mads Fuglede einen hoch respektierten Fachmann an Bord holt, der nicht nur über einen strategisch wichtigen Wahlkreis in Westjütland verfügt, sondern der vor allem als außen- und sicherheitspolitische Kapazität die DD-Fraktion maßgeblich verstärken kann. Und mit seinem Übertritt trifft die von ihrer alten Partei sich so verschmäht fühlende Støjberg Venstre mitten ins Herz. 

Die Hoffnung bei Venstre, dass die neue Doppelspitze Troels Lund Poulsen und Stephanie Lose der Partei neuen Halt geben und den inneren Blutsturz stoppen würde, hat nun einen harten Dämpfer erlitten. Für Venstre ist der Verlust von Fuglede aus zwei Gründen besonders schwerwiegend: erstens begründet er seinen Schritt mit seiner Ablehnung der seit 2022 strittigen Regierungs-Beteiligung. Und zweitens teilt er in Sachen CO₂-Politik die Haltung von Støjberg, die damit Venstre weitere Niederlagen zufügen kann, weil Venstre sich ja in der Regierung auf die Einführung einer CO₂-Abgabe für die Landwirtschaft festgelegt hat.  

Ohne das Innenleben aller Venstre-Abgeordneten zu kennen, so ist dem/der einen oder anderen durchaus zuzutrauen, dass er/sie sich mit ähnlichen Seelenqualen herumschlägt wie jene, die nun für Fuglede ausschlaggebend gewesen sind. In diesem Zusammenhang muss man nach vorn blickend besonders die Kommunalwahl im nächsten Jahr beachten, die zahlreiche Venstre-Bürgermeister den Posten kosten kann. Deshalb herrscht jetzt Absturzgefahr und höchste Alarmstufe in der Venstre-Führung – spürbar mehr als in den beiden anderen Regierungs-Parteien, obwohl nun auch bei Sozialdemokraten und Løkke die Sorgenfalten unschön zunehmen.

Das dänische Parlaments-System ist so seltsam und kompliziert zusammengestrickt, dass eine Mehrheits-Regierung auch als Minderheits-Regierung nicht zurücktreten muss. Die gesamte Opposition – von ganz links bis ganz rechts – verfügt zwar jetzt mit 88:87-Mandaten auf dem Papier über eine knappe Mehrheit und kann also geschlossen die Regierung durch die Manege jagen, aber das Kabinett braucht nicht unmittelbar um seine Existenz zu fürchten, da drei der vier nordatlantischen Mandaten ihm im schlimmsten Falle ein Sicherheitsnetz knüpfen können. Ob die färöischen und grönländischen Abgeordneten ausschlaggebend werden und dafür einen hohen Preis verlangen, lässt sich heute noch nicht voraussagen, aber unmittelbar haben sie ja zu erkennen gegeben, dass sie sich nicht in „innerdänische“ Angelegenheiten einmischen wollen.

Der von Fuglede (angeblich) völlig überraschte Troels Lund Poulsen hat in einer ersten Stellungnahme auf dem pfälzischen US-Stützpunkt Rammstein darauf hingewiesen, dass sich die Regierung – auch als sie noch eine eigene Mehrheit aufwies – stets um Kompromisse/Vergleiche mit anderen Parteien bemüht hat. Das ist richtig, nur dies war kein Muss, doch nun gibt es ein SOLL, heisst, dass die SVM-Regierung nun in jeder politischen Frage – bei der die nordatlantischen Abgeordneten sich neutral verhalten – mit anderen Parteien verhandeln müssen. Dies – abgesehen zum Beispiel von der Außen- und Sicherheitspolitik und der Ukraine-Frage – bedeutet natürlich taktisch eine viel defensivere, schwierigere, ja brenzlige Ausgangsposition.  Den Druck auf andere, notfalls selbst die Mehrheit stellen zu können, kann die Regierung also nicht mehr aufrechterhalten. 

Die Zeit neuer Überläufer ist in dieser Situation nicht vorbei, und die innere Stabilität der Mitte-Regierung steht jetzt vor einer Zerreißprobe. Wie will Venstre in dieser Lage manövrieren – schrittweise, rechtzeitig zurück ins bürgerliche Lager? Und das auffällige „Flirten“ der Regierungschefin um einen hohen EU-Posten beunruhigt ja nicht nur die Sozialdemokratie, wobei manche Genossen nicht nur insgeheim bereits auf einen Wechsel von Mette Frederiksen nach Brüssel hoffen, weil erst dann eine linke Kurskorrektur möglich ist, die viele Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sich sehnlich herbeiwünschen.

Der dänische Humorist Storm P. wurde berühmt mit dem Zitat: „Es ist schwer, etwas vorherzusagen – besonders die Zukunft.“

Das gilt allemal für Prognosen in der dänischen Politik, aber die Wette gilt, dass diese Regierung früher oder später nicht ohne Neuwahlen überleben wird. 

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