Vor 100 und vor 50 Jahren

Chronik Juni 2022: Knivsbergfest, königlicher Besuch und Hesse-Welle

Chronik Juni 2022: Knivsbergfest, königlicher Besuch und Hesse-Welle

Chronik Juni 2022: Knivsbergfest, Königliche und Hesse-Welle

Jürgen Ostwald
Jürgen Ostwald Freier Mitarbeiter
Nordschleswig
Zuletzt aktualisiert um:
Der italienische König Viktor Emanuel III., der dänische König Christian X. und Kronprinz Frederik, der spätere König Frederik IX., während des italienischen Staatsbesuchs vom 21. bis zum 23. Juni 1922 Foto: Det Kgl. Biblioteks billedsamling

Diesen Artikel vorlesen lassen.

Was hat im Juni vor 100 und vor 50 Jahren für Schlagzeilen gesorgt? Jürgen Ostwald hat im Archiv die Zeitungen durchforstet und aufgelistet, was die Menschen 1922 und 1972 bewegt hat.

Foto: DN

Freitag, 2. Juni 1922
Deutscher Jugendbund
Am 2. Pfingsttag findet eine Tagesfahrt des weiblichen und männlichen Jugendbundes nach Sandberg-Satrupholz-Arnkiel statt. Jeder Teilnehmer muss Verpflegung für den ganzen Tag mitnehmen oder Geräte zum Abkochen. Die Fahrt geht  mit dem Planschiff morgens um 6 Uhr nach Sandberg, von dort zu Fuß durch das schöne Satruper Gehölz nach Satrupholz. Nachmittags werden die Boote des Jugendbundes die Teilnehmer an der Fahrt zum Arnkiel-Denkmal und wieder zurück rudern. Um eine Übersicht über die Teilnehmer zu haben, bittet der Jugendbund sich in eine Liste einzutragen, die im „Hause Adalbert“ ausliegt. Beteiligt Euch alle recht zahlreich und Jeder sorge für eine gute Stimmung und Humor. Die alten Herrschaften sind besonders herzlich willkommen. Sammelpunkt: Süderbrücke 5 ½ Uhr, Abfahrt 6 Uhr. Mit den Booten, die auch um 6 Uhr fahren, kann eine beschränkte Anzahl Teilnehmer mitfahren.

Die deutschen Jugendbünde, von dem schon oft erwähnten Fr. Christensen unermüdlich unterstützt, waren noch selbstständig und noch nicht in einem gemeinsamen nordschleswigschen Gesamtverband vereinigt. Und so war es auch beim Sonderburger Jugendbund, in dem natürlich der männliche und der weibliche Teil getrennt operierten, auch wenn sie gemeinsame Unternehmungen durchführten.

 

Freitag, 16. Juni 1922
Notschrei aus dem russischen Hungergebiet
Der tschechoslowakische Delegierte Brahec, der Vertreter Nansens in Tscheljabinsk, hat dem internationalen Hilfskomitee für die Hungernden in Russland mitgeteilt, dass die Lage äußerst kritisch sei, 85 Prozent der 1 360 000 Seelen betragenden Bevölkerung leiden Hunger. Die Fälle von Kannibalismus häuften sich. Der Flecktyphus greife schnell um sich; auch die Cholerafälle würden immer zahlreicher. Der medizinische Vertreter Nansens im Gouvernement Tscheljabinsk sei ebenfalls am Flecktyphus erkrankt und er, Brabec, im Hungergebiet vereinsamt. Er ersuche um sofortige Entsendung einer Hilfsmission.

Tscheljabinsk am Ural, heute eine Stadt von eineinhalb Millionen Einwohnern, war damals ein Zentrum den Nansen-Mission. Fridtjof Nansen (1861-1930), der norwegische Polarforscher und Diplomat, war von 1921 bis 1923 als Hochkommissar des Völkerbundes mit den internationalen Hilfsaktionen in den Hungergebieten der Sowjetunion tätig. Im Herbst 1922 erhielt er den Friedensnobelpreis.

 

Sonnabend, 17. Juni 1922
Die Sonderburger Staatsschule hat ihren Bericht für das Schuljahr 1921-1922 herausgegeben. (…) Die im Abbau begriffene deutsche Abteilung zählte im Mai 1921 50 und jetzt 36 Schüler in fünf Klassen. (…) In der deutschen Abteilung erhielten K. Sprenger (U I) ein Stipendium von 200 Kronen, Fleißprämien Ad. Böse, Alb. Pollmann und J. Lei.

Die Sonderburger Staatsschule hatte am 1. Mai 1921 203 Schülerinnen und Schüler, am 1. Mai 1922 bereits 260.

Der italienische König Viktor Emanuel III. und König Christian X. gehen von Ny Carlsberg Glyptoteket in Kopenhagen zum Danteplatz, um den Grundstein zur Dantesäule zu legen. Foto: Det Kgl. Biblioteks billedsamling

Donnerstag, 22. Juni 1922
Das italienische Königspaar in Kopenhagen
Gestern Vormittag traf das italienische Königspaar in einem dänischen Hofzug über Warnemünde – Gjedder in Kopenhagen ein. Es fand ein für dänische Verhältnisse außergewöhnlich großer Empfang statt. Die dänische Königsfamilie war am Bahnhof erschienen und die Majestäten begrüßten sich durch Wangenkuss. Die Garde hatte am Bahnhof eine Ehrenkompagnie gestellt. Eine Husareneskadron eskortierte den Zug der königlichen Wagen durch ein Spalier von Truppen durch die Stadt nach dem Schloss Amalienborg; auf dem Schlossplatz paradierte eine Batterie Feldartillerie: Der Besuch wird mehrere Tage dauern. Geplant ist u. a. ein nächtliches Künstlerfest in der Kunstschule Charlottenburg und die Einweihung des Kopenhagener Danteplatzes vor der Glyptothek, wo eine alte Säule vom Forum Romanum, aufgestellt worden ist. „Politiken und „Berlingske Tidende“ haben ihre Begrüßungsartikel auf Italienisch übertragen lassen; so kann Kopenhagen sich in der klangvollen Sprache des Südens üben.

 

Montag, 26. Juni 1922
Die Ermordung Rathenaus
Eine erschütternde Nachricht übermittelte am Sonnabend der Draht: der deutsche Minister des Auswärtigen, Dr. Rathenau, ist ermordet worden. Diese neue fluchwürdige Tat ist leider geeignet, das deutsche Volk in neue Wirren zu stürzen, deren Folgen für das deutsche politische Leben und die deutsche Wirtschaft unübersehbar sind. Allgemeine Empörung hat das deutsche Volk ergriffen, zumal es sich anscheinend nicht um die Wahnsinnstat eines Einzelnen handelt, sondern um einen wohlvorbereiteten Anschlag, der nur zu gut gelungen ist. Für eine solche Tat gibt es keine Entschuldigung. Hoffentlich gelingt es, die Täter zu fassen und sie ihrer gerechten Strafe zuzuführen.

Über die Untat wird folgende „Amtliche Nachricht“ verbreitet:

„Berlin, 24. Juni.

Dr. Rathenau sollte heute morgen 11 Uhr eine Prüfung der Konsuld im Auswärtigen Amt vornehmen. Er fuhr kurz vor 11 Uhr von seiner Wohnung in der Königsallee 65 ab. Der Kraftwagen des Dr. Rathenau wurde bei der Abfahrt von seiner Villa von einem anderen Kraftwagen verfolgt, in dem drei Männer saßen. Beim Überholen des Wagens des Reichsministers Dr. Rathenau wurden aus dem anderen Kraftwagen etwa zehn Schüsse abgegeben und eine Stielhandgrante geworfen. Dr. Rathenau erhielt einen Schuss durch den Mund, der tödlich war. Der Wagen mit der Leiche Rathenaus kehrte sofort zur Wohnung zurück. Die Täter sind bisher entkommen.

Der Tatort ist die Ecke Erdener Straße und Königsallee im Grunewald. Die Gegend ist um diese Zeit wenig belebt. Es befindet sich viel Gebüsch und der Grunewald in der Nähe, so dass die Gelegenheit zu dem Attentat für die Mörder äußerst günstig war und ihr Vorhaben erleichterte.

Eine von der Kriminalpolizei gebildete Mordkommission hat sofort die Verfolgung der Täter aufgenommen, nachdem bereits Radfahrerstreifen der Schutzpolizei unmittelbar nach dem Attentat das Automobil des Täters verfolgt hatten.“

Die Ermordung Walter Rathenaus und deren Folgen für die Weimarer Republik und die Geschichte Deutschlands sind noch heute im kollektiven Gedächtnis. Das wird sich auch in den historischen Rückblicken und Einschätzungen zeigen, die zur 100-jährigen Wiederkehr des Ereignisses allerorten publiziert werden. Daher werden wir hier nicht näher auf das Attentat eingehen, in unserer Chronik vom Juli usw. aber darauf zurückkommen. Damals waren die Spalten unserer Zeitung wochenlang mit der Ermordung Rathenaus beschäftigt.

 

Mittwoch, 28. Juni 1922
Auf dem Knivsbergturm am 25. Juni 1922
Welch ein erhebendes Gefühl, unter der Krönung auf der Höhe eines Bauwerks zu stehen, das deutscher Geist einem großen deutschen Geiste, einem der selten Großen in Ehrfurcht und Dankbarkeit errichtete. Bewundernd geht der Sinn von dem Geisteshelden in der deutschen Politik zu dem Künstler, der dem dank der Verehrer und Bewunderer des Eisernen Kanzlers in dieser gewaltigen Form mit ihren ruhig kühnen Linien Ausdruck verlieh, zu denen, die die granitenen Quader zusammentrugen und -fügten zu einem Riesenwerk, das für Ewigkeit gebaut erscheint. – Und dazu das Riesenpanorama ringsum! Wahrlich, ein schönerer Ort konnte dem Andenken unseres Bismarck nicht gefunden werden als dieser, inmitten einer Riesenmulde, in der die Wogen eines vorzeitlichen Meeres die Unebenheiten ihres Bodens abgeschliffen zu sanft gebogenen Flächen. Und auf und zwischen diesen, was Menschenhände im Laufe von Jahrhunderten bauten und schufen, und dazu Felder und Wälder und darüber ein Himmel. Dessen helles Grau, durchsetzt mit blauen Fetzen und weißen Wolken, verschwimmt in dem dunklen Bleigrau des Horizontes. – Wie auf einer Riesenpalette ruht das Auge, auf der heute, zur Sonnenwendzeit, das Grün vorherrscht, ein Grün mit soviel Nuancen vom dunklen Moosgrün bis zum zartesten Gelbgrün, dass das Auge nicht müde wird zu schauen. Und hier und da hellere und dunklere Flecken in allen erdenklichen Farben. Immer wieder folgt das Auge den Linien der nahen und fernen Meeresküsten im Osten und es singt und klingt im Herzen: „Wer kennt ein Land, wie meins so schön?“ – Drunten tief feiert deutsche Jugend ein deutsches Fest mit Spiel und Tanz und Sang, ihr Knivsbergfest. Das läuft und rennt, springt und fällt, kriecht und steht, jauchzt und jubelt da unten auf den weiten Spielplätzen in heißen Wettkämpfen um den Siegespreis, den deutschen Eichenkranz. Ob heller Sonnenschein auf den Spielfeldern liegt, ob dunkle Wolkenschatten darüber hinwegziehen, ob heftige Regenschauer über sie hinwegwaschen, ob scharfer Wind sie wieder trocknet, die Jugend lässt sich dadurch nicht beirren; sie ringt weiter bis zum siegreichen Ende. So wird das bunte Spiel da unten zu einem Bilde des wechselvollen Lebens, in dem man steht und fällt und kämpft und ringt, siegt und verliert, lacht und weint, bis der große Kampfrichter das Schlusszeichen gibt. – Wir steigen hinunter und lassen unsere Blicke wieder und wieder gleiten über das wunderbare Gemäuer; und ob wir den Turm in seiner ganzen Größe vom Sockel bis zur Krone schauen, ob wir sein Bild auf dunklem Wolkengrunde über dem grünen Forst hinwegragen sehen, ob wir das Denkmal mit seiner näheren und weiteren malerischen Umgebung aus der Ferne auf uns wirken lassen, immer hält uns der monumentale Bau in seinem Bann. Noch einmal grüßt es uns, als wir auf dem Schiffe heimwärts fahren. Scharf hebt sich die charakteristische Silhouette des Turmes ab vor einer dunklen Wolkenwand, über deren weißen Saume die Sonne sieghaft thront.

Wir setzen diesen Erlebnisbericht eines wahrscheinlich aus Sonderburg stammenden Besuchers des Knivsbergfestes (er unterzeichnet mit „Sp.“) ungekürzt hierher, weil wir nur wenige Sprachzeugen von den zahlreichen frühen Knivsbergfesten haben. Natürlich ist das Maß an Sachaussagen im Text gering. Dieser Mangel wird aber aufgewogen durch einen authentischen Bericht, der, wenn er auch unbeholfen ist, die Erlebnisintensität eines wohl durchschnittlichen konkreten Besuchers des damaligen Knivsbergfestes miterleben lässt. Der Text gibt somit wohl die allgemeine Stimmung der Zeit wieder. Es wird nichts reflektiert, weder objektive Tatsachen noch subjektives Erleben werden hinterfragt. Bismarck, dessen Name nie erwähnt wird, erscheint als religiöser Reichsretter, eine Mythosformation, wie sie um 1900 entwickelt worden war. Nur einmal, im Blick vom Turm herab auf die Wettkämpfe, wird der Schreiber konkret und lässt mit dem Bild des Lebenskampfes seinem sozialdarwinistisch eingefärbten Weltbild freien Lauf.

 
Foto: DN

Donnerstag, 1. Juni 1972

Am 1. Juni erschien unsere Zeitung mit einem neuen Gesicht. Das Design änderte sich. So wurden z. B. serifenlose Lettern bei den Überschriften auch der ersten Seite eingeführt. Die Zeitung firmierte jetzt als „Deutsche Tageszeitung in Dänemark“. Aber nicht nur das! Die Zeitung wurde nunmehr auch im Hause „Dannevirke-Hejmdal“ in Hadersleben gedruckt (Modersmålet Trykkeri), einen „pressehistorischen Augenblick“ nannten es die dänischen Kollegen.

Foto: DN

Donnerstag, 8. Juni 1972
Dänemark hat fast fünf Millionen Einwohner
Dänemarks Bevölkerungsregister zählte laut Angaben der Volksregister am 1. April dieses Jahres 4.984.494 Personen. Am 1. Januar vorigen Jahres zählte die Bevölkerung 4.950598 Personen. In Nordschleswig waren am 1. April 239.788 Personen gemeldet. Der kleinste Ort des Landes außerhalb der kommunalen Einteilung war Christiansø mit 113 Einwohnern – 13 weniger als am 1. Januar 1971.
Die Bevölkerung Dänemarks zählt derzeit 5.841.069 Personen.

 

Montag, 12. Juni 1972
Knivsbergfest: Neue Formen mit neuen Inhalten füllen
Das Knivsbergfest 1972 der deutschen Volksgruppe in Nordschleswig stand am Wochenende unter der Zukunftsforderung, die neuen äußeren Formen des jährlichen Zusammentreffens auch mit neuen Inhalten zu füllen. Der Wechsel der Generationen und in der Trägerschaft von Verantwortung für die Erhaltung des Deutschtums im Grenzland klang nicht zuletzt in den Reden an, die am Sonnabendabend bei der Kundgebung in der neugestalteten Mulde auf dem Knivsberg gehalten wurden. Trotz ungünstiger Wettervoraussagen wurden die Veranstaltungen des Knivsbergfestes gut besucht.

Debatten um die Gestaltung des Knivsbergfestes gibt es seit Anbeginn, seit dem ersten Knivsbergfest kurz vor der Jahrhundertwende von 1900. Wenn die Häufigkeit der Debatten um neue Formen und Inhalte und deren Umsetzung ein Gradmesser der Krise des Knivsbergfestes sind, so mag der Leser entscheiden, ob wir heute in einer solchen leben.

 

Sonnabend, 17. Juni 1972
Ulrike Meinhof öffnete der Polizei selbst die Tür
Mit der Festnahme von Ulrike Meinhof hat die Polizei den letzten entscheidenden Schlag gegen den harten Kern der Baader-Meinhof-Bande geführt. Nachdem sie Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe am 1. Juni sowie Gudrun Ensslin am 7. Juni verhaftet hatte, fasste sie  die als ideologischer Kopf der Gruppe geltende 37jährige Journalistin am Donnerstagabend in Langenhagen bei Hannover. Ulrike Meinhof war in Begleitung des 24jährigen Gerhart Müller, der bisher nicht in Verbindung mit der Baader-Meinhof-Gruppe getreten ist. Die beiden hatten eine Maschinenpistole, drei Pistolen, zwei Handgranaten, eine 4,5-Kilo-Bombe und Munition bei sich. Bundeskanzler Willy Brandt und Sprecher der Bundestagsparteien haben die Festnahme am Freitag begrüßt.

 

Sonnabend, 17. Juni 1972
Hermann Hesses „Narziß und Goldmund“ ist gegenwärtig das in der DDR meistgekaufte Buch in der Sparte Belletristik. Wie der Literaturbeilage des „Neuen Deutschland“ zu entnehmen ist, liegt „Die Beute“ von Emile Zola an zweiter, „Mark Aurel oder ein Semester Zärtlichkeit“ von Werner Heiduczek an dritter Stelle der Nachfrage.

Hermann Hesse begann den Roman 1927 nach den großen Krisenjahren der Weimarer Republik in Montagnola im Tessin (er war seit 1923 Schweizer Staatsbürger). Der Roman erschien als Vorabdruck zunächst in der „Neuen Rundschau“, der renommierten Monatszeitschrift des Fischer Verlages. 1930 erschien das Buch, ebenso bei Samuel Fischer, mit einer Umschlagillustration von Hans Meid. Es sollte eines der erfolgreichsten Bücher Hesses werden. Wie viele Millionen Exemplare weltweit erschienen sind, weiß aber wohl niemand. Foto: Privat

Es überrascht den heutigen Leser, dass auch die DDR von der damaligen Hesse-Welle erfasst wurde. Die Hesse-Renaissance begann in der westlichen Welt in den frühen 60er Jahren und wurde durch die 68er Generation in Europa und der Hippie-Generation in den USA besonders in Schwung gebracht. Auslöser dieser tatsächlich gewaltigen Hesse-Welle war der „Steppenwolf“, der 1927 erstmals erschienen war. Aber auch der Mittelalter-Roman „Narziß und Goldmund“ von 1930 wurde um 1960 sogleich wiederentdeckt. Schon Thomas Mann schrieb gleich nach Erscheinen: „... ein wunderschönes Buch mit seiner poetischen Klugheit, seiner Mischung aus deutsch-romantischen und modern-psychologischen, ja psychoanalytischen Elementen.“

In Adoleszenz-Krisen greift jeder Jugendliche zu Hilfsmitteln, also zu Büchern. Und niemand bot sich eher an als Hesse. Jeder Leser dieser Zeilen wird im Rückblick auf sein eigenes Leben an diese Hesse-Zeit erinnert werden. Dazu war auch „Narziß und Goldmund“ geeignet. Hermann Hesse selber schrieb in einem eher distanzierend-spöttischen Grundton über seinen Roman 1930 und dachte dabei nicht nur an den jugendlichen Leser: „Der „Goldmund“ entzückt die Leute. Er ist zwar um nichts besser als der „Steppenwolf“, der sein Thema noch klarer umreißt, und der kompositorisch gebaut ist wie eine Sonate, aber beim Goldmund kann der gute deutsche Leser Pfeife rauchen und ans Mittelalter denken, und das Leben so schön und so wehmütig finden, und braucht nicht an sich und sein Leben, seine Geschäfte, seine Kriege, seine „Kultur“ und dergleichen zu denken. So hat er wieder einmal ein Buch nach seinem Herzen gefunden.“

So überrascht es in der Tat, dass dieser eskapistische Roman 1972 in der DDR so erfolgreich war. Es ist zu bedenken, dass die dort wohl auch weit überwiegend jugendlichen Leser, die durch Hesse-Texte literarisch sozialisiert wurden, ca. 15 Jahre später zu den Trägern der Friedlichen Revolution von 1989 zählen werden.

Und wie steht es mit „Narziß und Goldmund“ in Dänemark? Vor zehn Jahren hieß es im „Nordschleswiger“ (9. August 2012): „Viele Schüler kommen nicht umhin, im Deutschunterricht wenigstens ein Werk von Hermann Hesse zu lesen. Sei es „Der Steppenwolf“, „Narziß und Goldmund“ oder einfach nur ein Gedicht.“ Aber Hesse zählte natürlich nicht nur zur Schullektüre. Nach dem Krieg, 1948, erschien im damaligen Wochenblatt „Der Nordschleswiger“ ein Interview unter dem bezeichnenden Titel „Folge des Krieges: Hang zur Innigkeit“, in dem Ludwig Wohlenberg, der bekannte Apenrader Buchhändler, Hesses „Narziß und Goldmund“ eigens anpries. (Übrigens wenige Jahre nachdem er einen reichsdeutschen Nazi-Preis für ein Hitler-Schaufenster mit Kampf-Literatur gewonnen hatte.)

Die deutsche Erstausgabe des Romans 1930 wurde auch in der dänischen Presse bemerkt („Dagbladet“, „Nationaltidende“), mehr noch die 1936 bei Gyldendal erschienene Übersetzung von Carl Østergaard „Sol og Maane“, die auch in „Jyllandsposten“ neben über einem Dutzend weiterer dänischer Zeitungen Aufmerksamkeit erlangte. Der Lektor Carl V. Østergaard (1879-1969) war damals einer der bekanntesten dänischen Übersetzer (Goethe, Gottfried Keller, Thomas Mann). Die Ausgabe wurde 1972 durch eine Neuübersetzung von Mogens Boisen (1910-1987) bei Gyldendal abgelöst, die zahlreiche Auflagen erlebte. Man wird wohl in der nächsten Zeit eine neue erleben.

 

Dienstag, 20. Juni 1972
Am kommenden Freitag findet unter Anwesenheit zahlreicher Persönlichkeiten aus Kultur und Politik sowie von Königin Ingrid die feierliche Wiedereröffnung des Sønderjyllands Kunstmuseum in Tondern statt. In zweijähriger Bauzeit durch die Architekten Peter Koch und N. Rode-Møller aus Kopenhagen hat dann die Tonderner Bevölkerung sowie alle Kunstfreunde wieder Gelegenheit, sich an „ihrem Museum“ zu erfreuen und die „Zeugen der Vergangenheit“ aufzusuchen.

Das neue Museum war ein Werk des unvergessenen Sigurd Schoubye (1915-2000). Noch heute – nach 50 Jahren – ist seine ordnende Hand in der stadt- und regionalgeschichtlichen Abteilung spürbar, während andere Abteilungen durch Umstrukturierungen und Neubauten gänzlich neu aufgestellt werden mussten. Diese lange Dauer der Tondern-Einrichtung, die auch von seinen Nachfolgern und Nachfolgerinnen nicht radikal geändert wurde, zeugt von der großen Kennerschaft des unermüdlichen Autors und Museumsmannes.

 

Sonnabend, 24. Juni 1972
Ein Lexikon zur Kinder- und Jugendliteratur bereitet das Institut für Jugendbuchforschung (Frankfurt) gemeinsam mit der Internationalen Jugendbibliothek (München) als erstes in seiner Art in Europa vor. Der erste von drei Bänden soll noch in diesem Jahr erscheinen.

Tatsächlich erschien der erste Band erst im Herbst 1975. Bei der großen Anzahl von (gelegentlich säumigen) Mitarbeitern, die letztlich in die Hunderte gingen, kein Wunder. Das heute noch als Referenzwerk gültige und durch das Internet beileibe nicht überholte dreibändige Lexikon (im Jahre 1982 erschien noch ein Ergänzungsband)  wurde von Klaus Doderer herausgegeben, dem langjährigen Leiter des Frankfurter Instituts: „Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Personen-, Länder- und Sachartikel zu Geschichte und Gegenwart der Kinder und Jugendliteratur“. Unter seinen skandinavischen Lexikon-Mitarbeitern finden sich etwa Otto Holzapfel, damals  Germanist an der Universität Odense, oder auch der schwedische  Kinderliteratur-Forscher Göte Klingberg von der Universität in Lund oder die Stockholmer Bibliothekarin und langjährige Direktorin von  Svenska Barnboksinstitutet Mary Ørvig. Im Ergänzungsband steht übrigens ein kleiner Artikel – das wollen wir hier doch nicht übergehen – von Jakob Gormsen (1930-2018), dem damals in Apenrade tätigen Lehrer und Mitinitiator der Grenzlandausstellung.

 

Freitag, 30. Juni 1972
Das Ende kam überraschend
Die Schlagzeile der Berliner Tageszeitung „Telegraf“, die am Freitag zusammen mit  der „Nachtdepesche“ ihr Erscheinen einstellt, lautete am Donnersteg: „Warum muss diese Zeitung sterben?“ Im Artikel heißt es, die Nachricht über die Einstellung sei am Mittwoch „wie ein Blitz aus heiterem Himmel“ gekommen. Die im Außendienst tätigen Redakteure hätten die Nachricht aus dem Rundfunk erfahren, andere hätten „die kurze Mitteilung der Deutschen Presse-Agentur“ an ihren Schreibtischen gelesen. Von der Entscheidung seien über dreißig Redakteure, zahlreiche Mitarbeiter, Sekretärinnen sowie andere Angestellte und Arbeiter betroffen.

Die erste Nummer der Berliner Zeitung aus dem Jahre 1946. Als Herausgeber firmierten damals der Gründer Arno Scholz, ein angesehener Journalist schon in der Weimarer Republik, Paul Löbe, 1920 bis 1932 Präsident des Deutschen Reichstags, dann von den Nazis inhaftiert, und Annedore Leber, die Witwe des 1945 von den Nazis hingerichteten Politikers Julius Leber. Man sieht, der „Telegraf“ begann schon damals auf hohem Niveau. Foto: Berliner Geschichtswerkstatt

Die Einstellung der Berliner Tageszeitung, die zu den bedeutendsten Tageszeitungen in den Jahren der Bonner Republik zählte, war eine der spektakulärsten Nachrichten zum Zeitungssterben der damaligen Jahrzehnte. Die Einstellung hatte spezifische Gründe. Die aufgeheizte politische Atmosphäre der frühen 70er Jahre in Berlin, die durch die Springer-Presse zusätzlich aufgeheizt wurde, führte zum Auflagen-Niedergang des „Telegraf“. Auf diese Springer-Ursache wurde eigens in  der letzten Ausgabe des „Telegraf“ hingewiesen. Der „Telegraf“ stand der SPD nahe und verteidigte die Bonner Ostpolitik. Der sinkenden Auflage wurde mit wirtschaftlichen Fehlentscheidungen begegnet. Zudem starb der Gründer der kurz nach dem Krieg gegründeten Zeitung, die zu ihren besten Zeiten eine tägliche Auflage von 550.000 Exemplaren hatte. Nach dem Mauerbau 1961 büßte sie schon einmal fast die Hälfte ihrer Auflage ein, da sie im Osten nicht mehr gelesen werden konnte. Zu ihren Autoren zählten bedeutende Journalisten. Das Blatt hatte ein ausgedehntes Korrespondentennetz. In London und Paris, in Neu-Delhi und Kairo saßen eigene Korrespondenten.

Dänemark wurde von Stockholm aus bedient. Dort residierte bis zu seinem Tod Kurt Heinig. Heinig stammte aus Leipzig und war in der Zeit der Weimarer Republik Mitarbeiter des „Vorwärts“ und der „Weltbühne“. Von 1927 bis 1933 war er SPD-Reichstagsabgeordneter. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten floh er mit seiner Frau Cäcilie und seinen Kindern nach Dänemark. Hier fand er zunächst wie manche andere Emigranten Aufnahme bei dem damals erfolgreichen und heute vergessenen deutsch-jüdischen Schriftsteller Hans Roger Madol, der sich bereits 1929 das Herrenhaus Gl. Avernæs auf Fünen gekauft hatte und ebenfalls emigriert war. Nach dem deutschen Einmarsch 1940 floh die Familie Heinig nach Stockholm, wo Kurt Heinig Mitarbeiter verschiedener schwedischer Zeitungen wurde und bald das Skandinavien-Büro des „Telegraf“ übernahm.

Übrigens kennt fast jeder heute Heinigs Ehefrau Cäcilie. Denn sie war Übersetzerin, und wir verdanken ihr u. a. alle Pippi-Langstrumpf-Bände sowie alle Kalle-Blomquist-Bücher.

Mehr lesen