Vor 100 und vor 50 Jahren

Chronik Juli 2022: Von Armesünderfleisch bis Zeppelin

Chronik Juni 2022: Von Armesünderfleisch bis Zeppelin

Chronik Juni 2022: Von Armesünderfleisch bis Zeppelin

Jürgen Ostwald
Jürgen Ostwald Freier Mitarbeiter
Nordschleswig
Zuletzt aktualisiert um:
Geldschein 10.000 Mark
Der neue deutsche 10.000-Mark-Schein vor 100 Jahren. Das Porträt wird als „Bolschewistenkopf“ verhöhnt. Man lese unter dem 11. Juli 1922. Foto: Kunsthandel

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Was hat im Juli vor 100 und vor 50 Jahren für Schlagzeilen gesorgt? Jürgen Ostwald hat im Archiv die Zeitungen durchforstet und aufgelistet, was die Menschen 1922 und 1972 bewegt hat.

Montag, 3. Juli 1922
Eine neue Heimatzeitschrift für Nordschleswig ist im Nordmark-Verlag erschienen. Das stattliche Heft trägt die Aufschrift „Nordschleswig. Beiträge zum volklichen Aufbau“ und kündet damit an, was die neue Zeitschrift will. Die Schriftleitung lässt sich darüber wie folgt aus: Der Haupttitel kennzeichnet Ursprung und stofflichen Ausgang der neuen Zeitschrift: aus dem Leben nordschleswigschen Deutschtums ist sie erwachsen und ihm in erster Linie will sie dienen.

Die Zeitschrift wird bis zum Doppelheft 5/6 1925 erscheinen. Die Schriftleitung lag in Händen von Jacob Bödewadt in Tondern (für den nordschleswigschen Teil) und dem späteren Pädagogen Hans M. Johannsen in Kiel (für den Deutschland-Teil). Spiritus Rector war J. Schmidt-Wodder, der mit dem Aufsatz „Deutsche Selbstbestimmung im Wandel der Zeiten“ die Zeitschrift eröffnete, der auch in den hiesigen deutschsprachigen Zeitungen abgedruckt wurde und offenbar auf eine Rede Schmidt-Wodders zurückgeht: „Wie kann man eigentlich kürzer und männlicher und unanfechtbarer sagen, was wir wollen, als wenn wir sagen: ,Wir wollen unser Schicksal selbst bestimmen’? Das Wort vom Selbstbestimmungsrecht kann bleiben, weil es eine gute Losung ist für unsre Zukunft. Es muss bleiben, um es der Entente vor die Nase halten zu können; Es war eure Parole, wir verlangen sie verwirklicht. Was anders werden muss, ist nicht das Wort, sind die Menschen, die sich dahinter stellen. Wir, die wir sie vertreten. Stolz müssen wir es vertreten, als unser Lebensrecht, nicht als ein Recht von Ententes Gnaden. Zäher als die, die es durchsetzen wollen, zuversichtlicher als die, welche hier göttlichen Willen und eigenen Willen in Einklang wissen“ usw. usf. Es wird wenig gesagt, aber viel gesprochen. Später wird  der Aufsatz (mehrere Seiten) konkreter. Als Rede war der Beitrag glänzend konzipiert und inszeniert. Wer die obigen Zeilen liest und sie sich als Rede vor Hunderten Nordschleswigern vorstellt, kann sich die suggestive Wirkung ausmalen, die Schmidt-Wodder auf seine Zuhörer hatte.

Mittwoch, 5. Juli 1922
Anschlag auf Maximilian Harden
Gestern Abend um 8 Uhr 40 wurde im Grunewald auf Maximilian Harden ein Attentat verübt. Harden wurde schwer verletzt. Die Ärzte des Grunewaldsanatoriums leisteten die erste Hilfe. In einem zur Verfügung gestellten Kraftwagen wurde die Verfolgung der Täter sofort aufgenommen. Laut „Nachrichtenblatt“ wurde als vermutlicher Täter ein gewisser Weißhart festgenommen, der ein Mitgliedsbuch des Verbandes nationalgesinnter Soldaten bei sich trug. Der Überfall fand im Hausflur der Hardenschen Villa statt, als Harden von einem Spaziergang zurückkehrte. Die Verletzung soll nicht lebensgefährlich sein.

Maximilian Harden war wohl der bedeutendste deutsche Journalist der späten Bismarck-Zeit und des Zeitalters Wilhelms II. Seine Wochenschrift „Die Zukunft“ war dabei sein Kampforgan und ist heute einer der besten Seismografen des Kaiserreichs. Dass sein Ansehen bei dieser herausragenden Tätigkeit zwischen Bewunderung und Hass angesiedelt ist, scheint nur natürlich. In Nordschleswig liegt die Sache klar. Wir zitieren aus unserer „Sonderburger Zeiung“, die aus Anlass der Verleihung des Strindberg-Preises an Harden im Februar 1922 schrieb: Es kommt darauf an, „dass vor dem In- und Auslande ein Mensch als hoch geehrt und ausgezeichnet dasteht, der immer ein Charlatan und Schaumschläger war, der früher den getreuen Eckart des deutschen Volkes mimte, der aber seit Deutschlands Zusammenbruch die Kommunistenpresse an Schmähung Deutschlands vor dem Auslande überbietet und übrigens nebenbei der Entente durch Informationen über deutsche Zustände nützlich wird. Dass ein Mann wie Maximilian Harden vor aller Welt zu Ruhm und Ansehen gekommen ist, dass er als ein großer deutscher Schriftsteller, als ein maßgebender Vertreter des deutschen Geisteslebens gilt, das ist nicht etwa auf überragende geistige Kräfte in ihm zurückzuführen, sondern es ist ein Zeichen der Kläglichkeit unserer geistigen Zustände, der Verlotterung des Urteils, die im kaiserlichen Deutschland herrschte. Sein eigentlicher Name ist Isidor Witkowski, indessen ist er kein Jude reiner Rasse – das ist wesentlich. (...)“ So geht es spaltenlang weiter. Hetze ging politischen Anschlägen und Morden immer voraus. Der Mord an Walter Rathenau lag nur wenige Wochen zurück. Dass die „Sonderburger Zeitung“, die „liberalste“ unter den damals vier deutschsprachigen Zeitungen, einen derartigen Hetzartikel in ihre Spalten aufnahm, bestürzt auch den, der sich einigermaßen auskennt.

Mittwoch, 5. Juli 1922
Abgeschlagener Bildersturm
Die Berliner Stadtverordnetenversammlung hat mit allen bürgerlichen Stimmen gegen die Sozialisten den Antrag der Sozialdemokraten auf Entfernung der Hohenzollernbilder usw. aus den Schulen und öffentlichen Anstalten abgelehnt.

Montag, 10. Juli 1922
Deutschland baut wieder Zeppeline
Seit dem 5. Mai dürfen unter gewissen Bedingungen in Deutschland wieder Luftschiffe und Flugzeuge gebaut werden. Infolgedessen haben auch die Friedrichshafener Zeppelinwerke die Arbeit wieder aufgenommen. Wie aus Kreisen der Direktion  verlautet, soll zunächst mit dem Bau zweier Zeppelin-Schiffe begonnen werden. Durch das Diktat der Entente ist die äußere Baugrenze bei 30.000 Kubikmeter erreicht. Die neuen Schiffe werden daher unterhalb dieser Grenze bleiben. Der erste Neubau wird ein Starrluftschiff sein, das im Frühjahr 1923 fahrbereit sein und hauptsächlich der Erprobung gewisser technischer Neuerungen dienen soll, wobei der funkentelegraphischen Orientierung, der Steuerung, der Verankerung im Freien, der Führung in der Nacht und bei Nebel usw. besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden soll. Das Schiff wird später nach Spanien gesandt werden, wo es als Schulfahrzeug für die Ausbildung der Mannschaften der Linie Sevilla-Buenos Aires dienen soll. Ein weiteres Starrluftschiff von sehr großen Ausmaßen wird für Amerika gebaut als Ersatz für das in Norfolk 1919 zerstörte Luftschiff.

Während im Süden Deutschlands, in Friedrichshafen, der Luftschiffbau auch besonders durch den Flensburger Hugo Eckener wieder aufgenommen wurde, bemühte man sich zugleich im ehemaligen Norden Deutschlands, in Tondern, die nicht mehr zu verwendenden Luftschiffhallen zu verkaufen bzw. abzureißen. Über die Luftschiff-Episode in Tondern unterrichtet ausführlich Mogens Jensens Untersuchung von 2020 „Zeppelinbasen i Tønder. V. Marine-Luftschiff-Detachement Tondern. En tysk luftskibsbase i Sønderjylland“. Das Zeppelin- & Garnisonsmuseum Tønder, Gasværksvej 1 (Öffnungszeiten sonnabends und sonntags 10-15 Uhr) versucht gleichzeitig, die Erinnerung an die Zeppelin-Zeit im Norden wachzuhalten.

Donnerstag, 13. April 1922
Wie das Volk in der Apotheke spricht
Ein Apotheker soll Latein verstehen, er soll aber auch noch das verstehen, was der Volksmund aus den lateinischen Bezeichnungen macht.

Wenn ein altes Mütterchen „umgewandten Degenstiefel“ oder „umgewandten Dickentief“ verlangt, so soll er wissen, dass die Anguentum digestivum (Anguentum lat. Salbe) wünscht. Hierher gehört auch die „Unterhaltungssalbe“ und das „Amundum-arsenicum“, ferner der „umgewandte Napoleon“ (Lausesalbe). „Untermaldentisch“ heißt ein sehr geschätztes Einreibungsmittel und ein anderes „Ausderhinterstenundvorderstenbüchse“, während „Dingelgingelgangeltee“ Stifmütterchentee ist. „Äußerlichdreikreuz“ ist Chinarinde, „Lappenflanell“ ist Glaubersalz. „Schneiders Vergnügen“, „Schneiderkurasche“ und „Jungferschweigstill“ ist eine boshafte Umschreibung für Krätzesalbe, „Windmamsellen“ sind Pfefferminzpastillen, während „Pauli an die Korinthertee“ aus Faulbaumrindentee entstanden ist.

Verlangt wird ferner: Mückenfett, Maurerschweiss, Menschenhaut, gepulverter Menschenkopf, Menschenfett, Armesünderfleisch, Fuchslungenöl, Fuchsleber, rote Missetat, Schneckenfett, Schneckenzähne.

Wenn vom Apotheker „Ochswiedu“ verlangt wird, so ist er gar nicht beleidigt, sondern gibt Cardobenediktenkraut und wer „allerlei Luft“ wünscht bekommt – Sennesblätter.

Woher diese Zusammenstellung stammt, ist ungewiss. Möglicherweise aus einem Korrespondenz-Büro aus Berlin, aus dem sich deutschsprachige Zeitungen seit je für ihre Feuilletons bedienten. Wie es sich im deutsch-dänischen Nordschleswig mit den Bezeichnungen in der Volksmedizin verhielt, wissen wir wohl nicht. Eines bietet sich an: Eine Durchsicht des „Schleswig-Holsteinischen Wörterbuchs“ von Otto Mensing, das von 1927 an zu erscheinen begann und eine ebensolche des bewunderungswürdigen mehrbändigen „Bidrag til en ordbog over jyske almuesmål“ von 1886/93 von H. F. Feilberg (1831-1921). Dieser war einer der bekanntesten dänischen Volkskundler überhaupt und begann bekanntlich seine  Sammelleidenschaft in Ribe, wo er aufwuchs, dann in  Nordschleswig in Ullerup, wo er Pastor wurde, und in Solt, als Kaplan  im Südschleswigschen, bevor er sich ins Reichsdänische zurückzog. – Nehmen wir einmal das „Ochswiedu“. Im Dänischen heißt das Benediktenkraut heute Korbendikt (seltener Kardobenedikt). Der berühmte dänische Verfasser und Verleger Christiern Pedersen (1480-1554) hat es bereits in seinem Werk „Om Vrte Vand Till Ath Lege alle honde Sotter ...“ von 1534  beschrieben. Simon Paulli hat es in seiner „Flora Danica“ von 1648 natürlich auch. Die Volksmedizin in Dänemark kennt verschiedene Bezeichnungen: Benedikturt, Hvid Bendikt, Velsignet Tidsel. Schlagen wir im mehrbändigen Werk „Folkenavne paa Lægemidler“ von E. A. Petersen von 1891 ff. nach, so findet sich für die Gegend um Hadersleben „Permediktblade“ und „Bernhardineurt“. In dem kleinen Werk „De officinelle Lægemidler af Plantriget, som voxe vildt, eller kumme dyrkes i de danske Stater, ordnede efter de forskjellige Aarstider, paa vilke de indsamles“  von 1808 heißt die Pflanze „Læge-Knopbæger“ bzw. „Knopurt“. Die Verfasser waren die um 1800 sehr bekannten Kopenhagener Ärzte C. F. Schumacher, der aus Glückstadt stammte, und J. D. Herholdt, der 1764 in Apenrade geboren wurde. Er war der Sohn des dortigen Amtschirurgen. – Den weiteren obigen Bezeichnungen kann hier aber aus Platzmangel leider unmöglich weiter nachgegangen werden.


Dienstag, 11. Juli 1922
Der „Bolschewistenkopf“ auf dem 10.000-Mark-Schein
Die neuen deutschen Geldscheine, die gegenwärtig hergestellt werden, haben zum Teil im Publikum Anstoß erregt. Namentlich der 10.000-Mark-Schein erweckte bei einigen Misstrauischen den Verdacht, das darauf abgebildete „Bolschewistenkopf“ solle eine Verhöhnung der Reichsregierung bedeuten. Das ist natürlich nicht der Fall. Die Scheine mussten wegen der dringenden Papiergeldnot so rasch wie möglich angefertigt werden. Auf Porträtköpfe konnte man aus sicherungstechnischen Gründen nicht verzichten. Neue Entwürfe hätten zu viel Zeit in Anspruch genommen. Daher entschloss man sich, Bildnisgemälde alter deutscher Meister als Vorlagen zu benützen: Holbeins berühmten „Kaufmann Giese“, dessen Original im Kaiser-Friedrich-Museum hängt, Gemälde von Georg Pencz, Amberger usw. Der „Bolschewistenkopf“ auf dem 10.000-Mark-Schein aber ist nichts anderes als eine Reproduktion von Dürers Porträt seines Bruders.

Geldschein 10.000 Mark
Der 10.000-Mark-Schein von 1922 Foto: Kunsthandel

Für die allmählich schneller wachsende Inflation bedurfte es neuer Geldscheine. So geschah es, dass Albrecht Dürers Bruder Hans auf einen der Scheine kam, der dann eine solche Unruhe auslöste. Hans der Ältere, der zweite der drei Brüder Albrechts mit dem Namen Hans, wurde 1507 in die Nürnberger Schneiderzunft aufgenommen. Dass der Dargestellte auf dem 1500 entstandenen 30 x 25 Zentimeter messenden Gemälde, das jetzt in der alten Pinakothek in München hängt, Dürers Bruder darstellen soll, beruht einzig auf einem Inventareintrag von 1606 und ist heute umstritten, damals, 1922, aber noch nicht. Im Jahr des Dürer-Jubiläums 1971 (500. Geburtstag) sprach der bekannte Dürer-Forscher Fedja Anzelewski die Eigenhändigkeit Albrecht Dürers überhaupt ab und löste damit eine große Fach-Kontroverse aus. Die Sache ist unentschieden.

Albrecht Dürer: Bildnis eines jungen Mannes
Albrecht Dürer: Bildnis eines jungen Mannes Foto: Alte Pinakothek, München

Donnerstag, 20. Juli 1922
Das Ende der Mistel in Schleswig-Holstein
Wie in der Monatsschrift „Die Heimat“ berichtet wird, sind in Schleswig-Holstein die letzten Misteln ausgestorben. Noch vor Jahrzehnten war diese einst dem Volk so vertraute und mit heiligen Kräften ausgestattete Pflanze verschiedentlich zu finden. Die beiden letzten Misteln bewohnten eine Birke im Segeberger Forst und standen als Kulturdenkmal unter Schutz. Mit dem Absterben der Birke im Jahre 1921 haben auch die beiden Gäste, die sich von ihrem Safte nährten, ein Ende gefunden. Nun hat man die Mistel künstlich auf einem Baum beim Kieler Reformrealgymnasium eingebürgert; doch ist es bisher noch nicht gelungen, sie auf andere Bäume zu übertragen.

Mistel
Die Mistel und ihr Wirt Foto: Adobe Stock/Thomas_pics

„Die Heimat“ war die damalige Monatsschrift des „Vereins zur Pflege der Natur- und Landeskunde in Schleswig-Holstein, Hamburg, Lübeck und dem Fürstentum Lübeck“. Die Zeitschrift gibt es unter anderem Titel noch heute. In den ersten Jahrzehnten ihres Erscheinens (1. Jahrgang 1891) war Nordschleswig, besonders auch in den Jahren nach der Abstimmung, natürlich immer berücksichtigt worden. Die Meldung über die Mistel ergänzte einen Beitrag vom November 1921. Beide stammen von dem in Schleswig-Holstein zu seinen Lebzeiten – er starb 1966 – sehr bekannten Biologen und Lehrer Willi Christiansen. Er wurde 1885 in Ahrenviöl bei Husum als Sohn eines Lehrers geboren. Er besuchte von 1903 bis 1906 das Lehrerseminar in Hadersleben und war von 1906 bis 1909 Lehrer in Broacker und botanisierte dort fleißig. Seitdem war er als Lehrer in Kiel tätig und veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zur heimischen Pflanzenwelt, die ihm die Ehrendoktorwürde der Kieler Universität einbrachten. Namentlich seine „Pflanzenkunde von Schleswig-Holstein“ aus der Vorkriegszeit ist erwähnenswert, die 1955 eine zweite Auflage erlebte. Im Jahr der Klage um die Mistel, 1922, gründete Christiansen die „Arbeitsgemeinschaft für Floristik“, in deren Jahresbericht für 1922 es ausdrücklich heißt: „Nach wie vor rechnen wir Schleswig-Holstein bis zur Königsau.“ In den Jahresberichten wurden daher auch weiterhin die nordschleswigschen Beobachtungen in den Berichten der Arbeitsgemeinschaft veröffentlicht.

Die Zusammenarbeit mit dänischen Botanikern war damals offenbar zufriedenstellend. So  etwa mit Axel Lange (1871-1941), dem späteren Haupt-Gärtner des Botanischen Gartens in Kopenhagen, der sich in Nordschleswig gut auskannte. Nach der dänischen Eingliederung Nordschleswigs flossen erhebliche Mittel aus Kopenhagen zur Erforschung der Pflanzenwelt in den südlichen Jütland-Teil. Enttäuscht nahm man daher in Schleswig-Holstein 1922 die 4. Auflage eines damals in Dänemark weitverbreiteten Buches wahr, denn Nordschleswig wurde darin erstmals, aber nur bruchstückhaft und unzureichend berücksichtigt. Es handelte sich um die Neubearbeitung der „Dansk Ekskursions-Flora eller Nøgle til Bestemmelsen af de danske Blomsterplanter og Karsporeplanter“. Der Gründer dieser Exkursionsflora war Christen Raunkiaer (1860-1938), der 1890 bei Gyldendal  die erste Ausgabe vorgelegt hatte. Sein Nachfolger als Botanikprofessor in Kopenhagen (und damit auch als Leiter des Botanischen Gartens ebendort), Carl Hansen Ostenfeld (1873-1938), bearbeitete die Auflage von 1922 gemeinsam mit seinem Kollegen.

Das dänische Werk entspricht etwa dem deutschen sog. „Schmeil Fitschen“, benannt nach ihren beiden Erstherausgebern, das heute (schon zu Anfang unter Einschluss Dänemarks) in der 97. (!) Auflage als „Flora von Deutschland und seinen angrenzenden Gebieten“ vorliegt. Der erste „Schmeil-Fitschen“ erschien 1903. Vorausgegangen war ein berühmter Vorgänger von Otto Schmeil und Jost Fitschen: „Pflanzen der Heimat. Eine Auswahl der verbreitetsten Pflanzen unserer Fluren in Bild und Wort“. Dieses mehrfach aufgelegte Werk wurde an zahlreichen, wenn nicht allen Schulen Nordschleswigs benutzt. Ein Exemplar hat sich in der Bibliothek unseres ehemaligen Haderslebener Gymnasiums erhalten. Schmeil und Fitschen stammten aus dem Schuldienst (Fitschen war einige Jahre in Altona tätig) und reformierten den Biologie-Unterricht von Grund auf.

Sosehr man damals das Verschwinden der Mistel in Schleswig-Holstein beklagte, so sehr beunruhigen sich heute Teile der dortigen Naturschützer über ihre Wiederkehr (vgl. z. B. Erklärungen des Naturschutzbundes Deutschland). Auch in Dänemark ist die Mistel präsent. Es gibt sogar im Fachhandel kleine Bäume mit Misteln zum Selberkultivieren.

Foto: DN

Donnerstag, 6. Juli 1972
Statt Feuerwerk in München künstlicher Regenbogen
Statt eines olympischen Feuerwerks hat sich das Olympische Organisationskomitee (OK) dafür entschieden, zum Abschluss der Olympischen Spiele am 10. September einen künstlichen Regenbogen über das Olympia-Gelände zu spannen, der im OK als eine „Weltsensation“ bezeichnet wird.

Die Olympischen Sommerspiele von 1972 in München (und Kiel) werden am 26. August beginnen. Dänemark wird mit 126 Sportlern antreten. Doch Anfang September wird ein Bombenattentat die friedlichen Spiele unterbrechen. Der lange vorbereitete Plan mit einem Regenbogen, seit den Zeiten des Alten Testaments ein Friedens- und Versöhnungszeichen, wird jedoch nicht ad acta gelegt. Der Architekt Otto Piene wird ihn auf seine Art verwirklichen. Wir kommen darauf zurück.

Sonnabend, 8. Juli 1972
Jeder Fünfte steht heute im Verwaltungsdienst
Kopenhagen. Der Personalverbrauch der öffentlichen Verwaltung hat einen Umfang angenommen, der den Departementschef im Wirtschaftsministerium, Erik Ib Schmidt, erschüttert hat. Wie er „Politiken“ gegenüber erklärte, hat der Personalverbrauch der Verwaltung bereits den sogenannten Perspektivplan für die Zeit bis 1985 gesprengt. – Der Plan sieht eine jährliche Erhöhung der Zahl der Beschäftigten um 3,5 Prozent vor, im letzten Jahr sprang diese Zahl bereits auf neun Prozent. Der Plan ist gesprengt worden in der öffentlichen Administration, bei der Polizei, beim Militär, im Unterrichtsbereich, in den Büchereien, in der Kirche, im Gesundheitswesen und in den sozialen Institutionen. Jeder fünfte berufstätige Däne ist heute in den erwähnten Verwaltungsbereichen beschäftigt. Dazu Departementschef Schmidt: Ich bin erschüttert. Der Zuwachs an Beschäftigten im öffentlichen Dienst durfte nach dem Perspektivplan 15.000 Personen betragen, aber von 1970 bis 1971 betrug der Zuwachs nicht weniger als 41.000, d. h., man hat sich um 200 Prozent verschätzt.


Donnerstag, 13. Juli 1972
Der Roman „Die „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz läuft zur Zeit in Fortsetzungen in der sowjetischen „Roman Gasjeta“ (Romanzeitschrift). Das Heft mit jeweils 100 Seiten Inhalt erscheint in einer Auflage von 1,5 Millionen Exemplaren. Lenz wird im Klappentext als antifaschistischer Schriftsteller aus der Bundesrepublik vorgestellt.

Roman Gaseta
Die Zeitschrift veröffentlichte meist aus der Sowjetunion stammende Erzählungen, Novellen und Romane. Hier Michail Schlochows „Der stille Don“, der 1928 in den Anfangsjahren der Publikation erschien. Auf Deutsch erschien das Buch erstmals im Jahr darauf in Wien. Foto: Pivatbesitz

Es ist wohl das einzige Mal, dass unsere Grenzregion zum Literaturthema auch für die im äußersten Sibirien wohnenden Leser wurde (Auflage: 1,5 Millionen Exemplare!). Die Roman-Gaseta, die Roman-Zeitung, wurde 1927 von Maxim Gorki gegründet und stellte im Laufe der Jahrzehnte über 1200 meist sowjetische Romane vor. Es gibt sie noch immer. – Bereits 1971 war in Moskau im Nachfolger des Verlags für fremdsprachliche Literatur der Roman von Siegfried Lenz erschienen (459 Seiten). Übertragen wurde er von der Moskauer Übersetzerin Rebecka Galperina, die aus Moldawien stammte und 1974 starb. Sie hatte neben der älteren deutschsprachigen Literatur, etwa Stifter oder Kafka (!), besonders Zeitgenossen von Lenz übertragen, nämlich Franz Fühmann, Fallada, Brecht und Anna Seghers. „Die Deutschstunde“ war ihre letzte große Übersetzung. In der Roman-Gaseta wurde „Die Deutschstunde“ von J. Semikosa und A. Karelskowo gekürzt veröffentlicht.

Freitag, 14. Juli 1972
Auf der Insel Röm ist jetzt Nacktbaden erlaubt
Dänemarks erster Nacktbadestrand ist seit gestern offiziell eröffnet. Ein Kilometer des Südstrandes wurde dafür abgeteilt. Bei Ebbe rund vierhundert Meter breit, bei Flut immer noch dreihundert Meter. Der Strand ist abgedeckt und Schilder in deutsch und Dänisch weisen darauf hin: Öffentlicher Freibadestrand, Nacktbaden erlaubt.

Die Schilder wurden bald wieder abgebaut. Seit 1976 ist in an allen Stränden Dänemarks das Nacktbaden erlaubt. Es wird kein Unterschied zwischen bekleidet oder unbekleidet gemacht. Die Regelung ist nicht sehr bekannt. In Deutschland geht das Nacktbaden, auch in der ehemaligen DDR, wo es besonders beliebt war, zurück. Deutsche Urlauber in Dänemark kennen die dänische Regelung von 1976 meist nicht, gehen oft auch zugeknöpft einher.

Sonnabend, 22. Juli 1972
80.000 Gurken auf den Mist
Gärtnereibesitzer mussten gestern 80.000 Gurken von Gasa (lies: Gartnernes Salgsforeninger) in Odense zurücknehmen und sie vernichten, weil sie für den festgesetzten Mindestpreis von 25 Öre je Stück nicht loszuschlagen waren.

Es ist das erste Mal in den vergangenen fünf Jahren, dass Gurken auf den Abfallhaufen geworfen werden. Der Erzeugerpreis liegt gegenwärtig zwischen 25 und 60 Öre je Stück. So billig wurden Gurken seit 1967 nicht mehr von den Großgärtnereien geliefert. Die 80.000 Stück, die gestern nicht zu verkaufen waren, sind etwa die Hälfte des Gasa-Tagesangebotes in Odense. Im vorigen Jahr waren die Gurkenpreise so hoch, dass die Behörden mit dem Gedanken umgingen, die Importschleusen für dieses Erzeugnis zu öffnen.

Dienstag, 25. Juli 1972
Deutsche Büchereizentrale in Apenrade ausgeplündert
Wochenlange Arbeit von Angestellten der Deutschen Büchereizentrale Apenrade ist in einer einzigen Nacht fast ganz zunichte gemacht worden: Die komplette Stereoanlage der neuen Schallplatten-Abteilung und etwa 100 Platten wurden in der Nacht zu gestern aus dem Gebäude gestohlen. Die Diebe nahmen sich reichlich Zeit, um die mehrere Hundert Platten umfassende Kartothek zu durchsuchen und genau 87 Platten nach ihrem Geschmack auszusortieren und einzupacken. Büchereileiter Hans Walter Petersen: „Wir sind zwar versichert, aber die Arbeit beginnt jetzt von vorn!“

Sonnabend, 27. Juli 1972
Der Theologe Prof. D. Emanuel Hirsch, einer der bekanntesten deutschen Kierkegaard- und Luther-Forscher, ist, wie erst jetzt bekannt wurde, am 17. Juli wenige Wochen nach Vollendung des 84. Lebensjahres in Göttingen gestorben.

Jeder intensivere Kierkegaard-Leser kennt die schwarzen Leinenbände mit ihrem spezifischen Signet: die vielbändigen „Gesammelten Werke“ des dänischen Philosophen. Ihre äußere Gestalt verdankt die beim Eugen Diederichs-Verlag von 1956 bis 1962 erschienene Ausgabe dem Hamburger Buchkünstler, -Illustrator und Zeichner Hans Heinrich Hagedorn (1913-1998), der damals oft auf Sylt und in Nordschleswig Urlaub machte. Ihre innere Gestalt geht auf den Theologen und Kierkegaard-Spezialisten Emanuel Hirsch (1888-1972) zurück, der mit den 36 Abteilungen in 26 Einzelbänden (plus ein Registerband) der „Gesammelten Werke“ erstmals eine brauchbare umfangreiche Ausgabe der Schriften Søren Kierkegaards für deutschsprachige Leser vorlegte. (Diese Edition  erlebte in späteren Jahren eine weit verbreitete Taschenbuch-Ausgabe.)

Während der Edition trat Hirschs Schüler Hayo Gerdes (1928-1981) mit in den Übersetzerstab. Gerdes war u. a. Professor an der Pädagogischen Hochschule in Kiel und damit Lehrer zahlreicher auch in Nordschleswig tätig gewesener Lehrer. Emanuel Hirschs Schriften wurden während der nationalsozialistischen Zeit von Teilen der nordschleswigschen Pastorenschaft gerne gelesen. Hirsch begann sein Studium nach der Jahrhundertwende in Berlin namentlich bei Adolf von Harnack. Er trat aber auch Julius Kaftan näher, der wie sein Bruder, der damalige Generalsuperintendent Theodor Kaftan, aus Loit stammte, und der Professor an der Berliner Universität war, ohne dass Hirsch von ihm beeinflusst wurde. Als Professor in Göttingen war Hirsch bereits seit den frühen 1920er Jahren politisch in der antisemitischen Deutschnationalen Volkspartei tätig und gab zugleich seine ersten Kierkegaard-Arbeiten heraus.

In der Folge wurde Emanuel Hirsch einer der Ideologen der „Deutschen Christen“, die sich bereits vor der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten formiert hatten. Über Adolf Hitler schrieb Hirsch in völliger Verblendung: „Kein einziges Volk der Welt hat so wie das unsere einen Staatsmann, dem es so ernst um das Christlich ist“. Hirsch schreckte während der NS-Zeit auch nicht vor Denunziationen zurück. So nimmt mancher Leser dieser Zeilen, der mit den genannten und immer noch brauchbaren Kierkegaard-Bänden groß geworden ist, diese Bücher stets mit gemischten Gefühlen in die Hand.

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