Familie

„Die Situation im Kreißsaal fliegt uns um die Ohren“: Was Hebammen und Mütter bei Geburten erleben

„Die Situation im Kreißsaal fliegt uns um die Ohren“

„Die Situation im Kreißsaal fliegt uns um die Ohren“

Annika Kühl/shz.de
Flensburg
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Nathalie J. hat bei der Geburt eine negative Erfahrung gemacht, die sie bis heute prägt. Foto: Benjamin Nolte/shz.de

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Der „Roses Revolution Day“ will auf Gewalt in der Geburtshilfe aufmerksam machen. Doch das Problem ist vielschichtig, wie das Gespräch mit einer Betroffenen und einer Hebamme deutlich machen.

Nathalie J. ist 18, als sie ihr erstes Kind bekommt. Hilflosigkeit, Entsetzen, Angst, Schmerzen – das sind Schlagworte, die fallen, wenn sie von der Geburt ihrer Tochter erzählt. Sie habe zwar keine körperliche Gewalt erlebt. Aber dennoch: Die Erlebnisse prägen sie bis heute. „Ich hatte das Gefühl, dass das nicht richtig war.“

Die junge Mutter ist einem Aufruf von shz.de gefolgt, anlässlich des Roses Revolution Day am 25. November, dem Tag gegen Gewalt an Frauen und gegen Gewalt in der Geburtshilfe, ihre Geschichte zu erzählen.

Sie ist eine von wenigen, die sich gemeldet haben. Einerseits vielleicht, weil viele Frauen zum Glück eine Geburt erleben, bei der sie sich gut aufgehoben fühlen. Andererseits sicher auch, weil es ein verdammt heikles Thema ist – und ein riesiges Fass, das damit aufgemacht wird. Eines für endlose Debatten in den sozialen Netzwerken, mit gegenseitigen Vorwürfen, Unverständnis und Schuldzuweisungen.

Viele wollen sich zu dem Thema nicht äußern

Wir wollen in diesem Text keine Schuldfrage stellen, sondern uns dem Thema aus mehreren Perspektiven nähern. Aus diesem Grund nennen wir nicht den Geburtsort des Kindes von Nathalie J. und haben an mehreren Orten Krankenhäuser und Hebammen im Norden um ein Gespräch gebeten. Eine Antwort haben wir aus den Krankenhäusern jedoch nicht erhalten, auch viele Hebammen wollten sich dazu nicht äußern.

Eine, die sich ohne zu zögern gemeldet hat, ist Hebamme Martje Thiesen aus Tetenbüll. Sie war selbst bis vor einigen Jahren Beleg-Hebamme im Krankenhaus. Und sie betont, dass Gewalt in der Geburtshilfe ein Thema für Einzelfälle sei. „Die Frauen aus den Kreißsälen aus meinem Bereich sind grundsätzlich zufrieden“, sagt sie.

Dennoch hat sie Verständnis für die Schilderungen der von Gewalt betroffenen Mütter und findet es wichtig, dass darüber gesprochen wird. Als Ursache sieht sie eine Vielzahl von strukturellen Problemen, die mit wirtschaftlichen Zwängen zu tun haben.

Die hat offenbar auch Nathalie J. zu spüren bekommen. Sie erzählt, dass sie als junge Mutter nicht gewusst habe, dass sie eine Hebamme braucht und sich im Kreißsaal zur Geburt anmelden muss. Entsprechend unfreundlich sei der Empfang im Krankenhaus gewesen, als es plötzlich los ging.

Schließlich wurde ein Zimmer frei, in dem Nathalie J. circa zehn Stunden in den Wehen lag, berichtet sie. Sie habe sich allein gelassen gefühlt. Wegen starker Schmerzen habe sie Medikamente genommen und sich schließlich übergeben müssen.

„Ich durfte nicht aufstehen, nicht auf die Toilette und es kam niemand rein, um nach mir zu schauen. Ich fühlte mich komplett hilflos“, sagt Nathalie J. Die Hebamme habe ihr gesagt, sie solle sich nicht so anstellen.

Schließlich kommt ihre Tochter gesund zur Welt. Unter normalen Umständen wäre es einer der schönsten Momente im Leben einer Mutter. Nicht so bei Nathalie J.:

Für Hebamme Martje Thiesen spricht aus dieser Situation der akute und sich weiter zuspitzende Personalmangel in Krankenhäusern. „Das passiert, weil die Menschen überarbeitet sind“, sagt sie. 200 Überstunden seien keine Seltenheit. Sie versichert: „99 Prozent der Menschen sind da, weil sie Menschen gerne mögen.“ Aber dann komme die Überforderung. „Das Personal wird gestrichen, teilweise ist man alleine im Nachtdienst und für die ganze Station zuständig.“ Ein System, das zum Scheitern verdammt ist. „Damit man einer Frau Wohlbefinden schenken kann, muss man selbst Wohlbefinden haben“, sagt sie.

Veränderung an der Wurzel des Problems

Damit will sie die gewaltvollen Erlebnisse von Frauen nicht rechtfertigen. Aber für ihren Berufsstand in die Bresche springen: Hebammen seien so etwas wie Einhörner in diesem Bereich. „Unser primäres Anliegen ist, dass wir einen Raum schaffen, in dem Frauen loslassen und ihr Kind gebären können“, sagt sie.

Damit sich für Frauen wir Nathalie J. etwas ändert, brauche es Veränderungen an der Wurzel des Problems: „Gesundheit ist immer noch Wirtschaftsgut“, beschreibt es Thiesen und findet deutliche Worte: „Die Situation im Kreißsaal fliegt uns bald um die Ohren. Man kann Menschen nicht als Ware betrachten.“

Was haben Sie bei der Geburt im Kreißsaal erlebt? Wie stehen Sie zum Thema Gewalt in der Geburtshilfe? Schreiben Sie uns eine E-Mail mit Ihren Eindrücken und Ansichten zu dem Thema an redaktion.flensburg@shz.de.

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