Kolumne

„Nichts anderes als Zwangsarbeit: Warum ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr falsch ist“

Warum ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr falsch ist

Warum ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr falsch ist

Simone Schnase/shz.de
Flensburg
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Hilfsdienste im Altenheim könnten junge Menschen verrichten, wenn ein Gesellschaftsjahr Pflicht wird. Foto: imago images/Panthermedia/shz.de

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Das sogenannte „Gesellschaftsjahr“ soll junge Menschen verpflichten, ein Jahr soziale Arbeit zu verrichten. Die Mehrheit der Deutschen befürwortet diese Neuauflage des Zivildienstes, unsere Kolumnistin Simone Schnase ist entsetzt.

Es gibt ein deutsches Wort, das weitestgehend ausgestorben scheint: Drückeberger. Ewiggestrige haben früher damit verachtend all jene Männer betitelt, die den Wehrdienst verweigert haben.

Mit der Abschaffung der Wehrpflicht ist dieses Wort aus dem allgemeinen Sprachschatz verschwunden – und andere unschöne Dinge auch: Während jungen Männern ihre Entscheidung für die Ableistung des Dienstes an der Waffe damals sehr leicht gemacht wurde, mussten jene, die statt dessen den Zivildienst absolvieren wollten, eine oft demütigende „Gewissensprüfung“ durchlaufen. Und wer sich weder zum Wehr- noch zum Zivildienst zwingen lassen wollte, hat sich sogar strafbar gemacht.

Ein Jahr für die Gesellschaft

Kommt all das nun wieder? Zumindest kam die Idee eines Pflichtdienstes bei der Debatte über das neue CDU-Grundsatzprogramm wieder auf. Im März sprach sich die CDU-Bundestagsabgeordnete Serap Güler für ein „Gesellschaftsjahr“ aus, im Mai plädierte Niedersachsens früherer Innenminister Uwe Schünemann (CDU) für einen „verpflichtenden Gesellschaftsdienst“ und beim „Europaforum“ des WDR vor zehn Tagen sagte CDU-Chef Friedrich Merz, derzeit werde diskutiert, ob das Thema Wehrpflicht erneut auf die Tagesordnung kommen müsse. Merz sagte dort:

Man kann nur hoffen, dass er mit „Wehrpflicht“ nicht das meinte, was es früher einmal war, sondern das bereits genannte verpflichtende Dienstjahr, das unter anderem auch bei der Bundeswehr absolviert werden kann. Ohnehin war seine Aussage ein wenig wirr, denn die Wörter „Wehrpflicht“ und „freiwillig“ passen ungefähr so gut zusammen wie „Dauerregen“ und „Dürre“.

Neu ist die Debatte indes nicht: Die ehemalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sprach sich bereits Ende 2019 für ein Dienstjahr aus, das Schulabgänger im sozialen Bereich oder bei der Bundeswehr absolvieren könnten.

Breite Zustimmung in der Gesellschaft

Erschreckenderweise treffen diese Vorstöße in entsprechenden Umfragen stets auf viel Zustimmung in der Bevölkerung und auch einzelne Politiker von der SPD und den Grünen sind der Idee gegenüber aufgeschlossen. Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) twitterte damals auf den Vorstoß Kramp-Karrenbauers:

Dass der Durchschnittsbürger ungefähr die Hälfte seines Lebens durch Sozialabgaben, Steuern und seine Arbeitskraft etwas für die Gesellschaft tut, schien er vergessen zu haben.

Ob all diese Menschen sich selbst einmal gefragt haben, wie es wäre, wenn plötzlich jemand daherkäme und sie dazu zwingen würde, ein Jahr lang etwas zu tun, was sie freiwillig nicht tun würden? Wahrscheinlich nicht. Sollte es allerdings anders sein, stellt sich die Frage, warum dann nicht viel mehr Menschen ein Freiwilliges Soziales Jahr oder den Bundesfreiwilligendienst absolvieren. Denn es ist ja beileibe nicht so, dass es in Deutschland keine Möglichkeiten für ein „Gesellschaftsjahr“ sowie unendlich viele Möglichkeiten gibt, nebenberuflich ehrenamtlich tätig zu sein.

Warum statt der Pflicht nicht das Freiwillige honorieren?

Die Antwort ist simpel: Freiwilliges Engagement wird kaum honoriert. Für den Bundesfreiwilligendienst gibt es ein Taschengeld von maximal 423 Euro im Monat, für ein Freiwilliges Soziales Jahr sogar noch weniger. Würde sich das ändern, würden sich sicherlich viel mehr Menschen engagieren – ohne jeden Zwang.

Dem immensen Personalmangel im Pflegebereich kann ebenfalls nur begegnet werden, indem soziale Berufe in jeder Hinsicht aufgewertet werden – und nicht, indem man Schulabgänger dazu zwingt, die Personallücken zu stopfen. Auch gegen mutmaßliche Personalprobleme bei der Bundeswehr hilft keine Wiederauflage der Wehrpflicht, sondern nur eine Reform der Institution zu einem attraktiven und zeitgemäßen Arbeitgeber.

Und was ist mit den „Drückebergern?“

Wie gedenken die Fürsprecher eines Pflichtjahres eigentlich mit allen jenen umzugehen, die nicht dazu bereit sind, sich als Bauernopfer staatlichen Versagens zur Verfügung zu stellen? Werden das die neuen „Drückeberger“? Überhaupt: Welches Menschenbild steckt hinter der Idee eines Dienstjahres? Dass die Deutschen allesamt desinteressierte Egoisten sind, die man nur mit Zwang dazu bringen kann, sich für die Gesellschaft einzusetzen?

In Wahrheit arbeiten doch trotz der widrigen Voraussetzungen Millionen von Menschen in sozialen Berufen, bekleiden Ehrenämter, engagieren sich in der Flüchtlingshilfe oder in Vereinen. Selbst Minderjährige engagieren sich schon, und zwar gegen die drohende Klimakatastrophe. All das geschieht ganz ohne Zwangsarbeit.

Zwangsdienste wären Zwangsarbeit und damit verboten

Denn das wäre ein Gesellschaftsjahr letztendlich: Zwangsarbeit. Nicht weniger als eine Änderung des Grundgesetzes wäre nötig für seine Einführung. Auch europa- und völkerrechtlich ist ein Verbot von Zwangs- oder Pflichtarbeit geregelt, weswegen sich fast alle EU-Länder schwertun mit einer Verpflichtung jenseits der Wehrdienste, die es als Pflicht allerdings auch nur noch in wenigen Ländern gibt. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages kamen 2016 zu dem Schluss: „Die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht in Deutschland – sei es durch einfaches (Bundes-)Gesetz oder durch eine Verfassungsänderung [...] – würde [...] gegen das Verbot der Zwangsarbeit“ nach der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verstoßen.

Zudem ließe sich noch ergänzen: Ein solcher Pflichtdienst würde auch gegen das Recht auf Selbstbestimmung in einer freien, demokratischen Gesellschaft verstoßen.

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