Interview mit Weltärztechef

Montgomery: Brauchen Lockdown-Option für nächsten Corona-Herbst

Montgomery: Brauchen Lockdown-Option für nächsten Corona-Herbst

Montgomery: Brauchen Lockdown-Option

SHZ
Kiel
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Weltärztechef Frank Ulrich Montgomery. Foto: imago images/Thomas Trutschel/shz.de

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Um für den nächsten Corona-Herbst gewappnet zu sein, braucht es wieder eine Maskenpflicht, Abstandsregeln und auch die Möglichkeit, das Land in einen Lockdown zu schicken, findet Weltärztechef Frank Ulrich Montgomery.

Im Interview beklagt sich der Vorsitzende des Weltärztebundes Frank Ulrich Montgomery bitter über die FDP. Sie habe mit ihrem „falschen Freiheitsfetisch“ den Gesundheitsschutz geschleift und dürfe sich nicht wieder querstellen, fordert er. Entwarnung gibt Montgomery bei den Affenpocken: „Das Thema wird bald erledigt sein.“

Das Interview im Wortlaut:

Herr Montgomery, die Affenpocken sind in Deutschland angekommen. Wie bedrohlich ist das?

Es gibt keinen Anlass zur Panik! Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat Quarantäne- und Isolationspflichten erlassen und Impfstoff bestellt, die Regierung handelt genau richtig. Die Affenpocken sind eine im Kern seit Jahren bekannte Erkrankung, die Ansteckungsgefahr ist viel geringer als bei Corona. Mit Isolation, Quarantäne und Impfung der Gefährdeten ist das Virus schnell einzufangen.

Es wird keine neue Pandemie geben?

Definitiv nein! Die Ausbrüche sind schon lokalisiert, betroffenen sind nur bestimmte Personengruppen. Das Thema Affenpocken wird bald erledigt sein.

Gilt es keine Lehren zu ziehen, wenn immer häufiger Viren aus entlegenen Regionen bei uns auftauchen?

Doch, unbedingt: Mit der Zunahme der Weltbevölkerung sowie der zunehmenden Mobilität und der Kontakte zwischen Menschen und Tieren wird die Zahl der Zoonosen und der daraus abgeleiteten Viruserkrankungen immer weiter steigen. Die Abstände zwischen den Infektionen werden immer kleiner. Es gilt also zum einen, die Warnmechanismen der WHO und der EU zu schärfen. Und wir müssen die Bevölkerung schneller mitnehmen, sie auf Risiken hinweisen. Es braucht aber, drittens, auch einen gesellschaftlichen Konsens, dass auf die Wissenschaft gehört wird und nicht auf fachfremde Einwürfe aus der Politik. Die Versuche, bei Gesundheitsgefahren politisch Land zu gewinnen, verunsichert die Menschen und untergräbt die Akzeptanz notwendiger Schutzmaßnahmen.

Wie bei Corona?

Genau!

Sie blicken pessimistisch in den Herbst?

Ich bin kein Pessimist. Ich weise aber darauf hin, dass schon jetzt in vielen Teilen der Welt die Infektionszahlen wieder steigen. Das wird auch bei uns unweigerlich passieren, wenn es kälter und nasser wird und sich das Leben wieder in die Innenräume verlagert. Der entscheidende Unterschied zu vor zwei Jahren: Geimpfte Personen werden viel, viel seltener schwer krank als Ungeimpfte.

Was folgt daraus?

Jeder sollte sich impfen lassen. Es sind zur nächsten Corona-Saison neue, angepasste Impfstoffe zu erwarten, auch wenn alle, die einen Boostertermin haben, diesen schon jetzt unbedingt wahrnehmen sollten. Es geht um die Re-Stimulierung des Immunsystems, sodass Antikörper gebildet werden. Das wird durch die verfügbaren Impfstoffe erreicht.

Was noch?

Gesundheitsminister Karl Lauterbach muss das Infektionsschutzgesetz anpassen, damit Eindämmungsmaßnahmen eingeführt werden können, wenn die Lage ernst wird, und zwar bundesweit einheitlich. Das geht von der Pflicht zum Maskentragen im öffentlichen Raum bis hin zu Abstandsregeln und Kontaktbeschränkungen. Wir sind noch nicht durch mit der Corona-Pandemie!

Kann noch mal ein Lockdown notwendig werden?

Kommt keine neue, besonders aggressive Variante, sehe ich das nicht. Dazu ist die Impf- und Immunitätsquote zu gut. Aber wir müssen vorbereitet sein. Deswegen muss bei der Anpassung des Infektionsschutzgesetzes als Ultima Ratio die Möglichkeit zu einem Lockdown verankert werden. Es wäre fahrlässig, dieses Instrument nicht in den Werkzeugkasten zu legen, auch wenn wir alles unternehmen müssen, damit wir es nie wieder rausholen brauchen.

Trauen Sie das Karl Lauterbach zu? Er ist doch als „Freedom Day“-Minister in die Geschichte eingegangen…

Einspruch! Ich sehe Karl Lauterbach überhaupt nicht als „Freedom Day“-Minister, sondern als jemanden, den der Koalitionspartner FDP mit seinem merkwürdigen Begriff von Freiheit auf Kosten von Gesundheitsschutz hat auflaufen lassen. Eine Partei, die mit einem falschen Freiheitsfetisch die Sicherheit vieler Menschengruppen vergisst, ist ein Problem für jeden Gesundheitsminister.

Das heißt?

Ich traue Karl Lauterbach eine überzeugende und wirksame Corona-Strategie für den Herbst zu. Nur darf die FDP diese nicht wieder zerlegen. Es hat mich mehrfach erschreckt, dass der Markenkern der „Liberalen“ auf den Widerstand gegen sinnvolle Corona-Maßnahmen zusammengeschrumpft ist. Wären die „Freedom Day“-Ideen der FDP aus dem vergangenen September und Oktober umgesetzt worden, dann hätten wir Zehntausende an Toten mehr zu beklagen gehabt. Das muss Herrn Lindner und seinen Leuten klar sein.

Am Freitag ist der Ärztetag zu Ende gegangen. Was war für Sie als Ehrenpräsident die wichtigste Botschaft?

Auch als Vorsitzender des Weltärztebundes war mir die sehr emotionale Unterstützung für unsere Kolleginnen und Kollegen aus der Ukraine besonders wichtig, zwei von ihnen waren bei uns in Bremen. Wir haben ihnen das Versprechen gegeben, bei der Sicherstellung der medizinischen Versorgung in dem von Russland angegriffenen Land alles uns Mögliche zu tun. Fast 2.000 Ärztinnen und Ärzte aus Deutschland haben sich eingetragen, um im Bedarfsfall in der Ukraine auszuhelfen, natürlich außerhalb der Kampfzonen.

Ärztepräsident Klaus Reinhardt hat eindringlich gewarnt, hier in Deutschland drohe schon bald ein Ärztenotstand…

Und das ist keine Übertreibung. Wir brauchen sehr schnell deutlich mehr Ärztinnen und Ärzte, um die Versorgung im ganzen Land sicherstellen zu können. Daher der ganz klare Appell an die Länder, zusätzliche Medizinstudienplätze einzurichten und dafür das nötige Geld zu geben. Die Länder haben die Bildungshoheit und sind dafür verantwortlich. Es muss schnell gehen, denn nach dem sechsjährigen Studium folgen noch sechs Jahre Weiterbildung, es braucht also zwölf Jahre Vorlauf. Neben neuen Ärztinnen und Ärzten benötigen wir aber auch ausreichendes Personal für den öffentlichen Gesundheitsdienst, die Lücken hat die Corona-Pandemie schmerzhaft offengelegt. Also: Her mit einem auskömmlichen Tarifvertrag für die Mediziner im Gesundheitsdienst. Es ist ein Unding, dass sie deutlich weniger verdienen als die Beschäftigten in Krankenhäusern oder Praxen. Hier sind in erster Linie die Kommunen gefragt. Und von Karl Lauterbach wünschen wir uns eine neue Gebührenordnung für Ärzte. Die letzte stammt aus dem Jahr 1982, seitdem hat sich der Arztberuf völlig verändert. Das muss sich endlich in der Gebührenordnung niederschlagen.

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