Lehren aus der Pandemie

Krisenforscher aus Kiel: „Fehler und Irrtümer gehören einfach dazu“

Krisenforscher aus Kiel: „Fehler und Irrtümer gehören einfach dazu“

„Fehler und Irrtümer gehören einfach dazu“

SHZ
Kiel
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Die meisten Bürger haben die Maßnahmen wie die Maskenpflicht mitgetragen – und so die Pandemie eingedämmt. Foto: Marcus Dewanger Foto: Marcus Dewanger / SHZ

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Frank Roselieb sagt, dass die Pandemie nach anderthalb Jahren auf die Zielgerade geht. Im Interview spricht er über das Krisenmanagement der Politik, Querdenker und die Lehren aus dieser Zeit.

Eineinhalb Jahre nach dem ersten Lockdown spricht der Kieler Krisenforscher Frank Roselieb mit unserem Reporter Kay Müller über die Lehren aus der Pandemie.

Herr Roselieb, Sie haben schon zu Beginn der Pandemie gesagt, dass die zwischen 15 und 18 Monaten dauern wird – am 13. September ist es genau eineinhalb Jahre her, dass das Land im ersten Lockdown heruntergefahren wurde. Ist die Corona-Krise jetzt beendet?

Die Pandemie ist nicht ganz vorbei, aber sie klingt langsam ab. Wir kommen jetzt in die letzte Phase, in der jeder, der sich impfen lassen kann, ein Impfangebot bekommen hat. Deswegen ist es ja auch richtig, dass die Landesregierung ab dem 20. September umfangreiche Lockerungen beschlossen hat, die zeigen, dass noch nicht alles vorbei ist, wir aber weitgehend zu einem normalen Leben zurückkehren können. Weitere Restriktionen und Grundrechteinschränkungen wären angesichts der Lage auch nicht mehr verhältnismäßig.

Wie kommt es, dass solche Pandemien immer rund eineinhalb Jahre dauern?


Der entscheidende Wert ist meiner Ansicht nach aber die 10. Denn es dauert rund zehn Monate von der Bereitstellung eines Impfstoffes bis zu dem Punkt, an dem eine Pandemie in Mitteleuropa weitgehend unter Kontrolle ist. Das war bei der Schweinegrippe 2009/10 ganz ähnlich.

Dann kann man also die Pandemie als beendet betrachten?

Das ist irgendwann eine politische Entscheidung. Kein Infektionsmediziner wird das so sagen, denn Corona wird bleiben. Sie finden ja auch heute noch Schweinegrippeviren. Aber ich rechne damit, dass es demnächst ein politisches Signal geben wird, das lautet: Leute, seid weiter vorsichtig, aber ab jetzt ist jeder für sich selbst verantwortlich.


Das bedeutet, dass wir spätestens am Jahresende weitgehend ein Leben wie vor der Pandemie führen können?

Ja, zumindest was unser Leben in Schleswig-Holstein und Deutschland angeht, ist die Gefahr für Leib und Leben weitgehend gebannt. Sie werden vielleicht dann noch nicht ohne Probleme nach Australien oder Neuseeland fahren können, weil dort erst recht spät mit dem Impfen begonnen wurde. Und Länder wie Chile und Indonesien werden weiter Probleme haben, weil die Bevölkerung dort insbesondere mit dem chinesischen Impfstoff Sinovac versorgt worden ist, der offenbar Probleme mit der Delta-Variante des Virus’ hat. Dazu kommt, dass immer irgendwo auf der Welt Winter ist, und das Virus sich dort leichter ausbreiten kann. Deswegen rechne ich nicht damit, dass die Weltgesundheitsorganisation vor dem nächsten Sommer die Pandemie für beendet erklärt.

Was haben Sie aus der Pandemie gelernt?

Wir konnten sehen, dass alle europäischen Staaten nicht mal annähernd ausreichend Vorräte an Schutzmaterial hatten – mit Ausnahme von Finnland, das wegen der Randlage in Europa und Nähe zu Russland schon immer mehr vorgesorgt hat. Jetzt haben alle Länder nachgelegt. Was die Drehbücher im Kopf angeht, die Katastrophenschützer vor der Pandemie hatten, sind die tatsächlich weitgehend gut umgesetzt worden.


Was kann die Politik besser machen?

Erstens: Mutig sein. In Schleswig-Holstein haben wir im Sommer 2020 Tagestouristen zugelassen, in Mecklenburg-Vorpommern nicht. In Schleswig-Holstein ging der Tourismusumsatz an der Ostsee um 11 Prozent zurück, in Mecklenburg-Vorpommern um rund 46 Prozent, weil ohne Tagesgäste auch viele Übernachtungsgäste abgeschreckt wurden. Bei den Infektionszahlen gab es aber fast keine Unterschiede, was uns die Mediziner auch vorhergesagt hatten.

Und zweitens?

Es hat sich gezeigt, dass es einen „Kommunikationsbündler“ braucht, der schnell die richtigen Prioritäten setzt. Der sollte auch derjenige sein, der die Bürger lobt, die sich an die Regeln halten – und zwar in Dauerschleife. Beides hat in Schleswig-Holstein Ministerpräsident Daniel Günther gut gemacht.

Haben Sie als Wissenschaftler auch Fehler gemacht?

Ja, Fehler und Irrtümer gehören in Expertenrunden einfach dazu. Wir nutzen in der Krisenforschung sogenannte Szenarioanalysen und Krisenfalldatenbanken – und lagen am Anfang ziemlich daneben. Wir sind zunächst selbstbewusst vom guten Verlauf der Schweinegrippe ausgegangen. Besser wäre es gewesen, gleich mit der schlechteren Prognose der Spanischen Grippe (1918/20) zu arbeiten und entsprechende Handlungsempfehlungen abzuleiten. Still und heimlich haben wir – wie auch einige Politiker – im Sommer 2020 gehofft, dass vielleicht der Impfstoff doch schon im Herbst bereitsteht. Dann hätten wir genau wie bei der Schweinegrippe Risikogruppen schnell impfen und im Idealfall auf einen Lockdown verzichten können. Wir hätten aber stärker für den Herbst/Winter planen müssen. Das ist in diesem Sommer anders – da hat man gelernt und stimmt die Bevölkerung bereits jetzt auf den Wintermodus der Pandemie ein.

Sie haben zu Beginn der Pandemie gesagt, dass es sie überrascht hat, dass es damals wenig Verschwörungstheorien gab – das hat sich geändert...

...ja. Das lag an der Besonderheit dieser Pandemie, die für die Menschen völlig neu war. Zu Anfang hat das System von Befehl und Gehorsam funktioniert. Manche Menschen waren sogar froh, dass sich das Leben mal für eine Weile entschleunigt. Die Querdenker kamen dann erst im Sommer 2020, als die Infektionszahlen zurück gingen. Das ist aber eine Minderheit, die auch nicht mehr wächst.

Sie sorgen aber für Aufmerksamkeit.


Warum?

Sie haben drei Gruppen in der Gesellschaft. Rund 70 Prozent tragen die Maßnahmen mit und haben sich impfen lassen. Etwa zehn bis 15 Prozent sind unerreichbare Querdenker, die so genannte Dissensgruppe. Und dann gibt es noch rund 15 bis 20 Prozent in der Defizitgruppe – also Menschen, die noch nicht überzeugt oder die mit herkömmlichen Kommunikationsmitteln nicht zu erreichen sind. In Kiel hat es etwa Versuche gegeben, Multiplikatoren wie Imame in die Impfkampagne einzubinden, um die Impfquote in Stadtteilen mit höherem Migrantenanteil zu steigern – allerdings mit mäßigem Erfolg. Ich hätte mir noch deutlichere Aufklärungen über die Art und Wirkungsweise der neuen Impfstoffe gewünscht, damit die Quote der Geimpften weiter steigt. Aber vermutlich müssen wir uns eingestehen, dass wir bei der Kommunikation zum Impfen alles ausgeschöpft haben.

Verstärkt die Pandemie die Spaltung der Gesellschaft?

Nein. Dafür sind die Konflikte zu gering und zeitlich begrenzt. Und in den Umfragen zur Bundestagswahl ist auch keine Enttäuschung der Menschen von der Politik zu erkennen:


Sie setzen viel auf Kommunikation – was braucht es jetzt?

Wir brauchen weiter das, was wir schon die ganze Zeit immer und immer als Kernbotschaft wiederholen: Jeder einzelne Bürger ist Krisenmanager dieser Pandemie. Die Politik alleine schafft das nicht. Eine gute Kommunikation nimmt die Menschen mit und sorgt für eine zügige Informationskette. Das hat in der Vergangenheit nicht immer geklappt – etwa wenn Bürgermeister von neuen Corona-Regeln aus den Medien erfahren haben. So etwas kostet Vertrauen. In der jetzigen Phase der Pandemie müssen wir den Menschen weiter vermitteln, dass sie nicht leichtfertig werden dürfen.

Warum?

Erstens kommen wir nun wieder in den Wintermodus bei Corona. Zweitens haben wir eine Grippesaison vor uns und keinen neueren Impfstoff dafür. Letztes Jahr hatten wir kaum Grippefälle, weil die Menschen Masken getragen und Abstand gehalten haben. Das kann uns auch dieses Mal helfen – selbst wenn die Maskenpflicht aufgehoben werden sollte. In Asien ist es beispielsweise üblich, dass jemand, der hustet und niest, eine Maske trägt. Die Freiwilligkeit von Schutzmaßnahmen könnte etwas sein, das die Pandemie überdauert und uns auch im kommenden Winter helfen wird.

Also lernen die Menschen aus der Pandemie?

Nein, leider zeigt die Krisenforschung, dass das nur sehr bedingt so ist. Nach der ersten Ölpreiskrise 1973 waren die Menschen nur wenig alarmiert, Vorsorge zu betreiben. Erst beim Deja-vu, der zweiten Ölpreiskrise 1979, hat man damit begonnen. Und auch nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 brauchte es eine weitere Katastrophe 25 Jahre später, Fukushima 2011, bis es ein Umdenken in der Atompolitik gab. Ich glaube, dass sehr wenig von Corona bleiben wird und die Menschen bald denken: „So schlimm war es gar nicht.“ Das mag im Vergleich zu den Todeszahlen, die es in Italien oder Schweden gegeben hat, auch richtig sein. Und selbst in der Krisenforschung zählt eine Pandemie im Kreis der Extremrisiken immer noch zu den eher kleineren Krisenfällen: Die Infrastruktur bleibt erhalten – anders als bei Naturkatastrophen wie im Ahrtal. Auch die Versorgung der Menschen ist kaum eingeschränkt – ganz anders als bei einem längerfristigen Stromausfall, dem Blackout. Das sind gute und schlechte Nachrichten zugleich.

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