Leitartikel

„Regeln befolgen – oder Spielfeld verlassen“

Regeln befolgen – oder Spielfeld verlassen

Regeln befolgen – oder Spielfeld verlassen

Kopenhagen
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Der Europäische Gerichtshof hat den Weg dafür frei gemacht, dass die EU-Kommission Länder, die nicht nach den demokratischen Spielregeln spielen, wirtschaftlich abstrafen kann. Traurig, aber notwendig, dass dieses Machtmittel eingeführt worden ist, meint Walter Turnowsky. 

Am Mittwoch hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein wichtiges Urteil gefällt: Es ist rechtens, dass die EU Zuschüsse kürzen kann, wenn ein Mitgliedsstaat gegen die Rechtsstaatlichkeit verstößt.

Polen und Ungarn hatten gegen den Mechanismus geklagt, der seit Anfang 2021 im EU-Recht verankert ist. Die EU-Kommission mit Präsidentin Ursula von der Leyen an der Spitze hatte gezögert, das Machtmittel einzusetzen, solange das Verfahren lief. Jetzt hat sie die Möglichkeit.

Es ist traurig, dass es so weit kommen musste. Aber es konnte keinen anderen Weg geben. Die Regierungen in Ungarn und Polen haben Frauen- und LGBT-Rechte, Medienfreiheit und eine unabhängige Justiz mit Füßen getreten. 

Doch gerade diese Werte gehören zu den zentralen der Europäischen Union. 

Kritik seitens der EU ist bislang an dem ungarischen Regierungschef Viktor Orbán und seinem polnischen Kollegen Mateusz Morawiecki abgeprallt.

Daher wäre es nur konsequent, wenn von der Leyen nun die Kürzung der Mittel androhen würde. Denn nicht nach den Regeln spielen und trotzdem abzocken, geht nicht. 

Es ist zu wünschen, dass allein die Drohung ausreicht, die Regierungen in Budapest und Warschau zum Einlenken zu bewegen. Bislang deutet jedoch wenig darauf hin: „Machtmissbrauch“, „Freiheitsraub“ und „politisch motiviertes Urteil“, lauten die Reaktionen.

Daher wird voraussichtlich kein Weg daran vorbeiführen, dass die Kommission, so ungern sie dies tut, ein Verfahren zur Kürzung der Mittel gegen eines oder beide Länder einleitet.

Ohne Risiken ist das nicht, denn in beiden Ländern werden die Regierungen eine Auseinandersetzung mit der EU politisch instrumentalisieren. Im April stehen in Ungarn Wahlen an, und es bestehen kaum Zweifel, dass Orbán einen solchen Konflikt als „Einmischung in innere Angelegenheiten“ für den Versuch, wiedergewählt zu werden, missbrauchen wird.

Anzunehmen ist auch, dass Polen und Ungarn eine eventuelle Kürzung erneut vor dem EuGH einklagen werden. Es stehen also möglicherweise lange Auseinandersetzungen bevor. Doch die EU kann und darf in so zentralen Fragen nicht aus taktischen Gründen oder Scheu vor Konflikten nachgeben.

Orbán strebt nach eigener Aussage eine „illiberale Demokratie“ als nationalistische und konservative Alternative zu den westeuropäischen Demokratien an. Das ist selbstverständlich sein gutes Recht, so wie es das Recht der ungarischen Bevölkerung ist, erneut diesen Kurs zu wählen. Nur passt das dann nicht mehr mit der Europäischen Union zusammen.

Niemand hat Ungarn oder Polen gezwungen, der EU beizutreten. Doch ist man dabei, gelten die gemeinsamen Regeln. Wem sie nicht passen, der muss versuchen, sie zu ändern, statt zu beschließen, dass sie für einen nicht gelten.

Offen bleibt, ob eine eventuelle Kürzung der Mittel die Regierungen zur Einsicht bringen wird. Es liegt daher an der Bevölkerung in den beiden Ländern zu entscheiden, welchen Kurs sie einschlagen möchte. Und in äußerster Konsequenz ist es auch die Frage einer fortgesetzten EU-Mitgliedschaft.

Selbstverständlich wünscht sich keiner, der die EU ernst nimmt, dass nach dem Brexit weitere Staaten austreten. Wenn die Alternative jedoch ist, dass ein oder zwei Staaten die vereinbarten Absprachen konsequent nicht einhalten, dann ist das noch folgenschwerer. Denn das weiß schließlich jedes Kind: „Mensch ärgere dich nicht“ funktioniert nur, wenn alle nach den gleichen Regeln spielen. 

 

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