Rettungshelikopter in Niebüll

Der Himmel, die Landschaft – Wahnsinn

Der Himmel, die Landschaft – Wahnsinn

Der Himmel, die Landschaft – Wahnsinn

Ruben Karschnick
Ruben Karschnick Online-Redaktion
Niebüll
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Pilot Jürgen Voiss bereitet sich im Rettungshelikopter auf den Abflug vor. Foto: Ruben Karschnick

Seit zwölf Jahren fliegt der Rettungshelikopter Christoph Europa 5 nördlich und südlich der Grenze. Unser Reporter hat die Retter einen Tag lang begleitet.

Seit zwölf Jahren fliegt der Rettungshelikopter Christoph Europa 5 nördlich und südlich der Grenze. Unser Reporter hat die Retter einen Tag lang begleitet. 

Der Alarm piept, und Helikopter-Pilot Jürgen Voiss rennt zum Computer. Die Zentrale in Harrislee meldet: Ein Intensivpatient soll für eine rettende Operation vom Krankenhaus in Brunsbüttel nach Kiel geflogen werden. Die Hauptschlagader am Herzen droht zu reißen, der Mann kann jeden Augenblick sterben. 

Nicht mal eine Minute vergeht, da sitzt Pilot Voiss schon im Helikopter und lässt die Rotorblätter warmlaufen. Notärztin Bettina Hoffmann und Notfallsanitäter Christoph Mathäus suchen schnell ihre Sachen zusammen, wenig später sind auch sie an Bord.

Die Besatzung trägt knallrote Overalls und hat weiße Pilotenhelme mit Mikrofonen auf dem Kopf. Sofort denkt man an die Fernsehserie Medicopter 117; tatsächlich war Christoph Europa 5 um die Jahrtausendwende bei den Dreharbeiten der Serie im Einsatz. Seit 2005 fliegt Christoph Europa 5 ab Niebüll für die Luftrettung in Deutschland und Dänemark.

 "Ein Helikopter will eigentlich nicht fliegen."

- Pilot Jürgen Voiss

Wieso eigentlich Christoph Europa 5? Fast alle deutschen Rettungshubschrauber heißen Christoph – wegen des Heiligen Christophorus, dem Schutzpatron der Reisenden.

Eine deutsch-dänische Kooperation

Christoph Europa 5 hat eine bewegte Geschichte. Anfang der 2000er Jahre hatte sich insbesondere die Schleswigsche Partei für den – bislang einmaligen – grenzüberschreitenden Helikopter eingesetzt. Der heutige Vorsitzende des Bundes Deutscher Nordschleswiger, Hinrich Jürgensen, ist einer der Gründerväter. Mit dem Helikopter wollte er unter anderem sicherstellen, dass der Rettungsdienst in Süddänemark auch nach der Schließung des Krankenhauses in Tondern weiter funktionierte.

2014 wäre dann fast schon wieder Schluss gewesen. Die Region Süddänemark wollte das Geld für Christoph Europa 5 lieber einsparen. Es gab massive Proteste, auch von Gründervater Jürgensen. Er fürchtete, dass eine Absage Dänemarks gleichzeitig das Aus für den Helikopterstandort Niebüll bedeuten könnte. Am Ende überlegten es sich die Regionspolitiker noch einmal anders. Die Kooperation blieb bestehen. 

So hebt Christoph Europa 5 auch an diesem Tag im Februar 2017 ab – und wie. Es rattert und vibriert gewaltig. Das Herz rutscht in die Hose wie in einem sehr schnellen Aufzug. Der Helikopter steigt höher und höher und wechselt dann die Flugrichtung von vertikal nach horizontal. Auf zum Herzpatienten nach Brunsbüttel. 

Ratter, ratter, ratter. Es ist zu hören und zu spüren, wie jedes einzelne der Rotorblätter sich durch die Luft kämpft. Es wackelt die ganze Zeit: Schräglage links, Schräglage rechts, Neigung nach vorn. Für Menschen, denen schon im Flugzeug mal schlecht wird, ist so ein Helikopterflug definitiv nichts.

Durchschnittliche Minuten- und Kilometerzahl von Niebüll zu verschiedenen Orten in Deutschland und Dänemark Foto: Google Maps

„Ein Helikopter will eigentlich nicht fliegen“, ruft Voiss über den Bordfunk. "Wenn man den loslässt, fällt der einfach herunter.“ Danke, sehr beruhigend. Doch offenbar hat Voiss in seinen mehr als 7.000 Flugstunden noch keinen Helikopter "losgelassen", sonst säße er wohl nicht hier am Steuer. Jetzt kennt seine Begeisterung für Physik keine Grenzen mehr: "Würde man den Helikopter an seinen Rotorblättern hochziehen, brächen sie einfach durch", erklärt er. "Erst durch die Fliehkräfte erhalten sie ihre Stabilität."

Trotz Voiss' beängstigender Ansagen schwindet irgendwann die Furcht vor dem ungewohnten Fluggerät – und man vergisst fast den Ernst der Mission. Der Himmel, die Landschaft. Wahnsinn. Die Welt unter einem erscheint auf einmal sehr übersichtlich, und alles ist wie in Reinhard Meys Lied "Über den Wolken", obwohl wir uns darunter befinden. Toll, diese Freiheit! Nur grenzenlos ist sie nicht, denn gleich sind wir ja schon in Brunsbüttel.

Wie dieser Einsatz kommen die meisten Anfragen für den Helikopter aus Deutschland. Dänemark scheint nach dem Beinahe-Aus eine Art Kompromissmodell zu fahren, denn besonders häufig fordert die Zentrale in Odense den Niebüller Helikopter nicht an. Da der Helikopter überwiegend pro Einsatz bezahlt wird, kann Dänemark die Kosten auf diese Weise gering halten. Manchmal, berichtet die Helikoptercrew, passieren Unfälle in Dänemark nur wenige Flugminuten von Niebüll entfernt. Doch statt des Helikopters wird ein Notarzt geschickt, obwohl er im Rettungsfahrzeug deutlich länger braucht. 

1.113 Einsätze im vergangenen Jahr

Trotzdem ist der Helikopter gut ausgelastet. Im Jahr 2016 flog Christoph 1.113 Einsätze. In den Sommermonaten ist er quasi im Dauereinsatz: Touristen fallen vom Rad, Segler kentern, Wattwanderer stranden auf Sandbänken – und weitaus Schlimmeres. Im Winter dagegen sitzt die Besatzung manchmal wie die Angler stundenlang auf der Station, ohne dass etwas geschieht.

Weil das Krankenhaus in Brunsbüttel keinen Hubschrauberlandeplatz hat, fliegt Pilot Voiss das Gelände einer nahe gelegenen Feuerwehrwache an. Der Helikopter schwebt noch rund 30 Meter über dem Boden, da macht Notfallsanitäter Mathäus die Tür auf und hängt den Kopf heraus, um Voiss Anweisungen für die Landung zu geben. Mathäus hat eine spezielle Ausbildung für die Flugrettung, um insbesondere bei Start und Landung zu helfen. Auch wenn der Helikopter, wie Voiss sagt, nicht fliegen will: Er kann es! Selbst in diesem eng bebauten Wohngebiet ist es möglich, die Maschine zu landen.

Ein Rettungswagen holt Notärztin Hoffmann und Rettungssanitäter Mathäus vom Helikopter ab, damit sie den Patienten von den stationären Krankenhausgeräten abkoppeln und ihn an mobile Geräte anschließen können. 

Notärztin Bettina Hofmann, Notfallsanitäter Christoph Mathäus und Pilot Jürgen Voiss Foto: Ruben Karschnick

Zwei Schuljungen haben die Landung des Helikopters beobachtet. Da stehen sie und staunen. Aus ihren Augen spricht die gleiche Begeisterung, Faszination und Ehrfurcht, die auch Voiss befällt, wenn er über den Helikopter erzählt. Voiss und der Reporter dürfen es genießen, von diesen Jungen für einen Augenblick für so etwas wie Superman und Batman gehalten zu werden. So jedenfalls gucken sie.

Eine Viertelstunde später ist der Rettungswagen mit Blaulicht zurück. Auf einer Trage schiebt Notfallsanitäter Mathäus den Patienten in den Helikopter. Ein Mann Mitte 20. „Alles so weit gut?“, fragt ihn Notärztin Hoffmann. Der Mann quält ein Lächeln hervor – offenbar weiß er, dass überhaupt nichts gut ist. Aus seinem Blick sprechen Trauer und Angst. 

Am Körper des Patienten laufen Schläuche und Kabel entlang. Zurzeit sei der Kreislauf stabil, sagt Notärztin Hoffmann. Ein Gerät misst regelmäßig den Blutdruck und die Sauerstoffsättigung im Blut. Über einen kleinen Plastikschlauch in einer Vene am Arm erhält er Flüssigkeit und ein starkes Schmerzmittel. Der Helikopter hebt ab.

Eine Intensivstation auf drei Quadratmetern

Immer wieder blickt die Notärztin auf das EKG mit der Herzfrequenz. Nach einer Weile streckt sie dem jungen Mann den Daumen entgegen. Doch sie weiß: Er muss es lebend nach Kiel schaffen, nur dort können ihn Spezialisten operieren. Mit rund 250 Kilometern pro Stunde rast der Helikopter in Richtung der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt, 25 Minuten sind veranschlagt. Mit einem Rettungswagen würde es viermal so lange dauern.

Jeder Winkel des Helikopters ist mit Materialtaschen vollgestopft; an den Wänden blinken Knöpfe und Monitore. Die Erkenntnisse der modernen Medizin sind hier gebündelt in einer rund drei Quadratmeter kleinen Intensivstation.

Christoph Europa 5 wird immer dann angefordert, wenn er die schnellste Möglichkeit ist, einen Notarzt zum Patienten zu bringen. Mal hat sich ein Kind den Daumen eingequetscht, mal ist ein Bauer von seinem Mähdrescher erfasst worden. Der Helikopter-Notarzt muss sie alle behandeln können – auf so engem Raum, dass eine Ryanair-Sitzbank dagegen komfortabel erscheint.

Viel Platz ist im Innenraum des Helikopters nicht. Foto: Ruben Karschnick

Auch der Herzpatient scheint von der Enge fast erdrückt zu werden. Er liegt ganz starr und verzieht keine Miene. Hofft er? Betet er? Oder hat er die Hoffnung gar aufgegeben? Man sieht es ihm nicht an. Außen schraubt sich die drei Tonnen schwere, unverwüstlich erscheinende Maschine durch die Luft. Innen kämpft die zarte und verletzliche Maschine Mensch ums Überleben.

In Kiel angekommen, schlägt das Herz des Patienten weiter stabil. Vorsichtig wird er von der Helikoptertrage auf die Krankenhaustrage verfrachtet. Notärztin Hoffmann überreicht ein Formular. Dann wird der Mann von Krankenhausmitarbeitern davongefahren.

Für die Helikopter-Crew ist der Einsatz erledigt. Wie es für die Patienten weitergeht, erfahren sie meist nicht – an jedem einzelnen Schicksal persönlich Anteil zu nehmen, wäre wohl selbst für die abgehärteten Retter zu viel.

Auf dem Rückflug will keine Helikopter-Begeisterung mehr aufkommen. Wer, wie der Reporter, nicht dauernd einen Menschen in Lebensgefahr vor sich hat, der ist jetzt erst einmal für eine Weile beschäftigt. Das ängstliche Gesicht des Mannes hat sich eingebrannt. In solchen Extremsituationen ist es egal, dass man den Patienten überhaupt nicht kannte, eigentlich keinerlei Beziehung zu ihm hatte. Da sah man einfach nur einen anderen Menschen leiden und fühlte zutiefst mit ihm.

Daten: Christoph Europa 5

Einsatzgeschwindigkeit: ca. 240 km/h

Flughöhe: bis ca. 3.000 m NN

Reichweite: ca. 500 km

Kraftstofftank: 707 Liter

Maximales Abfluggewicht: 3.350 kg

Erforderliche Start-/Landefläche: ca. 20 x 20 m

Maße: Länge: 13,00 m, Höhe: 3,36 m, Breite: 2,71 m Rotor-Ø: 11,00 m 

Frage an die Crew: "Wie geht ihr mit besonders schlimmen Einsätzen um?" Man brauche eine Art Aktenschrank im Kopf, in den man die schlimmsten Bilder einsortiere, sagt Notfallsanitäter Mathäus. "Man kann sie nicht vergessen, aber man kann versuchen, sie wegzuheften." Auch ein geregeltes Privatleben helfe. 

Nach besonders schlimmen Einsätzen setzen sich die Retter für eine Weile zusammen und sprechen über das Erlebte. "Gerade, wenn Kinder betroffen waren, hat man schon daran zu knabbern", sagt Voiss, der selbst Familienvater ist.

Im einen Moment die Freude am Fliegen genießen, im nächsten Moment einen Menschen vor dem Tod retten – es ist ein Beruf der Extreme, den die Luftretter haben.

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