Die Woche am Alsensund

Seht her, welch Idylle. Als ob.

Seht her, welch Idylle. Als ob.

Seht her, welch Idylle. Als ob.

Sonderburg/Sønderborg
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Eine neue Woche am Alsensund mit Kolumnistin Sara Eskildsen Foto: Karin Riggelsen

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Wir leben nicht nur im deutsch-dänischen Grenzland, sondern jeden Tag erneut im Grenzland der eigenen Entscheidungsfreiheit, schreibt Sara Eskildsen in ihrer neuen Kolumne vom Alsensund.

Diese Woche am Alsensund begann passend zu Halloween recht entsetzlich. Sonntagabend fielen in der Innenstadt von Sonderburg Schüsse, und noch mitten in der Nacht landeten via Outlook zwei Pressemitteilungen der Polizei zur Lage in der Großen Rathausstraße direkt neben meinem Bett.

So fuhr ich im nebligen Morgengrauen nach Sonderburg, um mir die Einschusslöcher sowie zwei gelegte Brände aus der Nähe anzuschauen.

Die Stadt am Sund war an diesem Morgen wie geschaffen als Kulisse für einen Kriminalfilm. Außer den postierten Polizisten war kaum jemand auf den Straßen unterwegs. Ein ausgebranntes Auto dampfte vor einem Hochhaus vor sich hin, und durch die mit Kugeln zersiebte Scheibe des arabischen Schnellimbisses in der Innenstadt pfiff der Wind.

Kurz darauf schickte die Polizei eine dritte Pressemitteilung: Die Tat sei innerhalb des Banden-Milieus zu verorten, die Öffentlichkeit nicht in Gefahr. Eine Aussage, die bei mir für gewisse Erleichterung sorgte. Also war zumindest kein Psychopath unterwegs, der wahllos Shawarma essende Bürger erschoss.

Der Täter fuhr mit dem Fahrrad vor

Diverse Festnahmen und Ermittlungsstunden später schickte die Presseabteilung der Politi eine weitere Mail. Diesmal mit Fotos aus Überwachungskameras, die den Täter kurz vor den Schüssen zeigte. Auf einem Fahrrad.

Während Täter in Los Angeles oder bei James Bond gern mit einem wendigen Motorrad daherkommen, um Leute zu erschießen, fährt man in Sonderburg mit dem Rad vor.

Ein komisches Gefühl, in der Großen Rathausstraße vor einer zerschossenen Fensterfront zu stehen. Schüsse fallen in unserem Teil der Welt zum Glück ja eher selten. Wer im Sommer an den bunten Häusern der Rathausstraße durch Sonderburg und Richtung Hafen spaziert, wähnt das Böse, das Gefährliche, weit weg.

Hier wird Krieg normalerweise nur gespielt

Schusswaffen spielen am Alsensund meist nur dann eine Rolle, wenn Touristen für ein paar Stunden Krieg spielen wollen. Wenn sie im Geschichtszentrum Bleikugeln gießen und sich beim Kanonenschlag die Ohren zuhalten, um sich ganz in die Schlacht von 1864 zurückversetzt zu fühlen.

Krieg als Freizeitvergnügen und zum Anfassen, ganz ohne Verlust von Beinen oder Hörvermögen. Und ganz ohne Einschusslöcher.

Hier am Alsensund werden normalerweise nur jene Kugeln eiskalt verabreicht, die in einer Waffel stecken und über eine Theke gereicht werden.

Hier in Süddänemark wird Mohn nicht zu Drogen verarbeitet wie beispielsweise in Südamerika. Hier wird Mohn abfotografiert und mit einem Filter versehen bei Instagram gepostet. Sehr her, welch Idylle. Als ob.

Wir können uns jeden Tag neu entscheiden. Ob wir zerstören oder zuhören. Lästern oder lösen. Besänftigen oder beschimpfen. Vergeben oder vergelten. Dafür, ob wir scharf schießen oder schlichten.

Sara Eskildsen, Kolumnistin

Als ob das Böse und das Gefährliche nicht auch hier zu finden sind. Apropos finden: Mit der idyllischen Ruhe wäre es am Sonntag auf der Halbinsel Kjär übrigens fast vorbei gewesen, als Hobby-Sucher zwei Fliegerbomben aus dem Zweiten Weltkrieg fanden.

Mitten auf einem Acker begannen ihre Metalldetektoren plötzlich wie wild zu piepen. Die Freude, etwas Wertvolles gefunden zu haben, wich schnell einem gewissen Entsetzen: Die beiden waren auf zwei 500 Kilogramm schwere Bomben gestoßen, buchstäblich.

Der dänische Munitionsräumdienst übernahm den Fall, und bis heute wird nach einer Lösung gesucht, die Bomben möglichst schonend zu sprengen, ohne die gesamte Halbinsel in die Luft zu jagen.

Bomben neben den schönsten Obstplantagen Süddänemarks und Schüsse in einer bunt angemalten Hafenstadt am Alsensund – ja, dieser Wochenstart fiel gänzlich aus dem idyllischen Rahmen.

Nicht nur alte Bomben liegen im Verborgenen

Mein Fazit dieser außergewöhnlichen Tage am Alsensund: So wie die beiden Bomben unter der Grasnarbe der Wiese, liegen oft auch die unschönen Seiten einer Gesellschaft, einer Familie oder eines Menschen im Verborgenen.

Wer weiß schon, wie viele Konflikte den Schüssen in der Rathausstraße vorausgegangen waren, bevor man sich entschied, scharfe Geschütze aufzufahren und in der Öffentlichkeit zu schießen?

Ich saß als Lokaljournalistin in diversen Gerichtsverhandlungen, die davon zeugten, dass Missbrauchsfälle und Gewalttaten über Monate, über Jahre unbemerkt bleiben können. Die oft nur durch Zufall entdeckt werden. Oder weil jemand sich die Mühe macht, näher hinzugucken. Auch hier bei uns am Alsensund, wo es Adressen wie „Pferdegarten“ und „Honigloch“ gibt.

An der Grenze der Geduld beginnen Konflikte

Überall, wo Menschen sind, gibt es Konfliktpotenzial. Wir können uns missverstehen, bekämpfen, das Leben schwer machen oder aufeinander schießen. Können den anderen in die Ecke drängen, fiese Worte finden oder mit scharfer Kritik um uns schießen. Es ist so einfach. Und so unschön.

Wir können uns jeden Tag neu entscheiden. Ob wir zerstören oder zuhören. Lästern oder lösen. Besänftigen oder beschimpfen. Vergeben oder vergelten. Dafür, ob wir scharf schießen oder schlichten.

An der Grenze der Geduld beginnen Konflikte, hat Oscar Wilde mal geschrieben. So gesehen befinden wir uns alle nicht nur im deutsch-dänischen Grenzland. Sondern Tag für Tag im Grenzland der eigenen Entscheidungsfreiheit.

 

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