Die Woche am Alsensund

„Tränen lügen nicht und reinigen das Herz“

Tränen lügen nicht und reinigen das Herz

Tränen lügen nicht und reinigen das Herz

Sonderburg/Sønderborg
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Am Sankt-Hans-Abend treffen Licht und Dunkelheit aufeinander. Foto: Johnny Madsen/Biofoto/Ritzau Scanpix

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Mit Blick auf die kürzeste Nacht des Jahres stellt sich Kolumnistin Sara Wasmund die Frage, ob man darüber nun froh oder traurig sein soll, und ob man neben einem Stockbrot eigentlich auch sein eigenes Leben in der Hand hat.

Kein Rauch ohne Feuer – von dieser Binsenweisheit konnte man sich in dieser Woche am Alsensund mit Würstchen in der einen Hand und Stockbrot in der anderen allerorten überzeugen. Am 23. Juni feiert ganz Dänemark den Sankt-Hans-Abend, den längsten Tag des Jahres.

Und so loderten auch entlang des Alsensundes diverse Holzhaufen, die ihre Rauchsäulen in den Abendhimmel entsandten und der kommunalen CO2-Bilanz ein paar Minuspunkte einbrachten.

Doch wo kein Richter, da kein Urteil und mir ist nicht bekannt, dass die Sankt-Hans-Feuer die öffentliche Statistik schwärzen. Da sieht man dann den Rauch vor lauter Klimazielen besser nicht.

Ich sehe so schwarz wie die Außenwände meines Stockbrots

Mir rieselt am Mittsommerabend meist nicht nur der Sand aus den Haaren in die Grillwurst, sondern es rieselt mir auch eiskalt über den Rücken bei dem Gedanken, dass die Abende von nun an wieder kürzer werden. Ich sehe dann so schwarz wie die Außenwände meines Stockbrots.

Stadtratspolitiker Stephan Kleinschmidt hat in einer seiner Feuerreden in Ballebro mal gesagt, man solle das Positive des Abends feiern, anstatt traurig darüber zu sein, dass es nun wieder „bergab“ geht.

Diesen Satz rufe ich mir seitdem jedes Jahr wieder ins Gedächtnis, während ich mir mit Blick auf die nun kürzer werdenden Tage verstohlen eine rußige Träne aus dem Augenwinkel wische und so tue, als sei mir beim Reinbeißen ins Stockbrot ein Stück Aschteig ins Auge geflogen.

Sonnenwendfeier in Düwig Foto: DRN

Tränen lügen nicht und reinigen das Herz, um Schlagersänger Holm und Schriftsteller Dostojewski mal in diesem einen Satz zu Wort kommen zu lassen. 

Zwei Männer, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Michael „Mendocino“ Holm hat die Welt 47 Jahre lang mit Schlagermusik beliefert, Michailowitsch Dostojewski ist seit 1881 tot und hinterließ der Weltliteratur 35 Romane und die Frage nach dem Sinn des Lebens.

Warum wir zu dem werden, was wir sind ­und wie viel Einfluss wir darauf nehmen können – diese Frage ist vermutlich ebenso unsterblich wie die Ohrwürmer von Michael Holm.

Ist doch jeder Schmied seines eigenen Lebensglücks?

In der vergangenen Woche am Alsensund hatte ich kurz hintereinander an einem Vormittag zwei Interviews mit zwei etwa gleichaltrigen Männern Ende 30, die jedoch völlig andere Lebensbahnen eingeschlagen haben.

Der eine nahm mit 14 den ersten Orgelunterricht und ist seit Kurzem der neue Organist an der Sonderburger Marienkirche, der andere Gesprächspartner hat sich als junger Erwachsener als DJ selbstständig gemacht, eine Disco übernommen und ist jetzt Partner in einem Kapitalfonds, der Nachtclubs und Bars betreibt.

Was für unterschiedliche Lebenswege, gesteuert von beruflichen Entscheidungen, aber auch von Freundeskreis und Familie. Beide sind ­– so ließen es die Gespräche vernehmen – genau dort gelandet, wo sie sein wollten. Wo sie sein wollen.

Ist  doch jeder Schmied seines eigenen Lebensglücks? Kann jeder das sein und werden, was er will? Und wenn nicht: Muss man sich dann eben doch noch ein wenig mehr anstrengen?

Und dann, spätestens dann, bin ich mehr als gewillt, Stephan Kleinschmidt recht zu geben und das Positive zu sehen. Die hellen langen Abende auszukosten, anstatt die Dunkelheit zu fürchten, die irgendwann wieder kommt. Aber noch nicht heute.

Sara Wasmund, Journalistin

Verglichen mit einem Sankt-Hans-Feuerhaufen behaupte ich, dass wir einige der großen Stöcke in unserem Leben selbst auf den Stapel legen und hie und da einen Brandbeschleuniger mit einbauen.

Wo die Feuerstelle aber liegt und wer uns anzündet, haben wir jedoch nicht in der Hand. In Anbetracht der Tatsache, dass ich beispielsweise nicht 1821 in Moskau geboren wurde und wie Dostojewski in einem sibirischen Arbeitslager in der Stadt Omsk arbeiten musste, sondern 2021 mit meinem Toyota durch die Kommune Sonderburg rolle, um Berichte zu erstatten und für ein Online-Medium zu schreiben.

Abhängig von vorangegangenen Entscheidungen anderer

Zutiefst abhängig von Geschichte, Gesellschaft und politischer Weltlage, mobiler Technologie und frisch aufgeschäumtem Kaffee to Go. Abhängig von den Entscheidungen unserer Eltern, Mitmenschen und Politikern.

Und so stehe ich Jahr für Jahr am Sankt-Hans-Abend vor einem brennenden Feuerhaufen und denke darüber nach, wie viele Menschen, Entscheidungen und Lebensumstände in meinem Feuerhaufen wohl so aufgestapelt sind. Wie viel Unkraut mit reingeraten ist und besonders heftig raucht. Und wie lange mein Feuer wohl noch brennen wird.

Am Sankt-Hans-Abend tanzen selbst die Schatten

Und dann, spätestens dann, bin ich mehr als gewillt, Stephan Kleinschmidt recht zu geben und das Positive zu sehen. Die hellen langen Abende auszukosten, anstatt die Dunkelheit zu fürchten, die irgendwann wieder kommt. Aber noch nicht heute. Wo Licht ist, da fällt Schatten, aber am Sankt-Hans-Abend tanzen selbst die Schatten im Spiel des Feuers und der strahlend untergehenden Sonne.

Oder um es am Ende dieser Woche am Alsensund mit Dostojewskis Worten zu sagen: „Das Leben ist ein Geschenk, das Leben ist Glück, jede Minute des Lebens kann ein Jahrhundert des Glücks sein. Wenn die Jugend das doch nur wissen könnte!“

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