Terror in Norwegen

„Der Tag der Anschläge wird mir immer im Gedächtnis bleiben“

„Der Tag der Anschläge wird mir immer im Gedächtnis bleiben“

„Der Tag der Anschläge wird mir im Gedächtnis bleiben“

Oslo
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Das Regierungsgebäude in Oslo nach dem Bombenanschlag. Kim Jessen wohnt nicht weit davon entfernt. Foto: AFP/Ritzau Scanpix & Privatfoto

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Kim Jessen aus Nübel wohnt nur ungefähr eineinhalb Kilometer von der Stelle entfernt in Oslo, an der ein rechtsextremer Terrorist am 22. Juli 2011 eine kräftige Bombe zündete. Danach begab sich der Täter zu der Insel Utøya und ermordete 69 Teilnehmer eines politischen Jugendcamps.

Kim Jessen hat eine Woche Urlaub im Sommerhaus etwas südlich von Oslo verbracht. Am 22. Juli gegen 14 Uhr machen er und seine Familie sich in Richtung ihrer Wohnung nach Oslo auf. Der gebürtige Nordschleswiger sieht die Details dieses Tages noch deutlich vor seinem inneren Auge.

„Ich erinnere mich genau an das Wetter. Es ist bewölkt und sieht aus, als würde ein Unwetter drohen“, erzählt er und kann die sønderjyske Sprachmelodie nicht ganz verbergen.

Jessen ist 1963 in Nübel (Nybel) geboren und dort auch aufgewachsen. Seine Lehre hat er in der Schlachterei in Blans gemacht. 1988 ist er nach Norwegen gezogen, wohnt seit 1992 in Oslo.

Eine Tür schlägt zu

Ebendort kommt er an besagtem Tag gegen 15 Uhr an. Er begibt sich in den Keller, um in seiner Werkstatt ein wenig an seinem Motorrad zu schrauben. Die Tür hat er mit einem Stück Leitung angebunden, um sie offen zu halten.

„Nach ungefähr einer halben Stunde flackert das Licht, und die Türe schlägt zu. Ich rufe meinen Sohn, weil ich denke, er ist gekommen. Als er nicht antwortet, habe ich mir weiter nichts gedacht“, berichtet der 58-Jährige.

Heute wissen wir, dass die Tür um genau 15.26 Uhr zugeschlagen sein muss.

Kim Jessen wird der Zusammenhang erst klar, als er wieder in die Wohnung hinaufgeht. Seine damalige Frau fragt, ob er nichts gehört habe und erzählt ihm dann, dass es in der Innenstadt eine Explosion gegeben hat.

 

Die Stadt ist wie ausgestorben, kein Mensch befindet sich auf der Straße.

Kim Jessen

Jessen reimt sich zusammen, dass die Tür durch die Druckwelle aus der Befestigung gesprungen ist.

„Ich sage halb im Scherz zu meiner Frau, dass da wohl Kriminelle am Werk waren. Doch sie antwortet, dass dies wohl um einiges größer sei.“

Autobombe

Was genau nur eineinhalb Kilometer von ihrer Wohnung entfernt geschehen ist, ahnen sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sie verfolgen die Nachrichten im Fernsehen, um mehr zu erfahren.

Allmählich wird klar: Eine kräftige Bombe ist im Regierungsviertel explodiert. Die Ermittlungen werden zeigen, dass der Täter einen Lieferwagen mit ungefähr 950 Kilogramm Sprengstoff vor dem Gebäude „Høyhuset“ geparkt hat, in dem sich das Staats- und das Justizministerium befinden.

Acht Menschen kommen bei dem Sprengstoffanschlag ums Leben, und mehr als 30 werden verletzt. Das Regierungsviertel gleicht einer Kriegszone.

Erst allmählich wird Kim Jessen und seiner Frau das Ausmaß der Katastrophe klar. Gegen 18 Uhr muss er noch einmal in die Apotheke, um ein Medikament zu kaufen.

„Die Stadt ist wie ausgestorben, kein Mensch befindet sich auf der Straße“.

Das Massaker auf Utøya

Drei schwarze Geländewagen fahren an Jessen vorbei. Er interessiert sich für militärische Anliegen und erkennt sie als Fahrzeuge der Sondereinheit des norwegischen Militärs.

„Da wird mir klar, dass es ein Terroranschlag sein muss.“

Da ahnte ich, dass etwas ganz Schlimmes geschehen sein muss.

Kim Jessen

Was er nicht weiß, ist, dass der Täter zu diesem Zeitpunkt noch einen zweiten, bei Weitem blutigeren Anschlag verübt. Von Oslo aus ist der Terrorist zu der kleinen Insel Utøya gefahren. Dort veranstaltet die Jugendabteilung der Sozialdemokratischen Partei, AUF, ein Sommercamp. Um 17.22 Uhr kommt der Täter auf der Insel an.

Einen ersten Hinweis auf das, was sich dort abspielt, bekommt Jessen durch einen Anruf aus Dänemark.

„Mein Onkel aus Broacker ruft mich gegen 18.30 Uhr an, und fragt, was denn eigentlich bei uns geschieht.“

Das dänische Fernsehen berichtet von ermordeten und verletzten Jugendlichen. Das norwegische Fernsehen zeigt diese Bilder nicht. Jessen schaltet auf den dänischen Sender um, doch auch dort sind die Informationen noch spärlich.

Rettungshubschrauber

Einige Zeit später lenkt Lärm von draußen von den Fernsehberichten ab. Die Familie wohnt in der Einflugschneise zum Universitätskrankenhaus in Oslo. In engem Takt tauchen hier nun Rettungshubschrauber auf.

„Da ahnte ich, dass etwas ganz Schlimmes geschehen sein muss.“

Den ganz Abend starrt das Paar noch auf den Fernsehschirm, doch die Informationen bleiben spärlich.

In der Öffentlichkeit ist auch noch unbekannt, wer die Tat begangen hat. In den Medien wird auf islamistische Terroristen getippt. Auch Jessen denkt, eine Gruppe aus dem Ausland sei verantwortlich.

Am nächsten Tag steht er um 5 Uhr auf und schaltet den Fernseher ein.

Dieses Wochenende, ja, die gesamte darauffolgende Woche, erscheint mir vollkommen irreal.

Kim Jessen

„Ich erfahre, dass insgesamt 77 Menschen umgekommen sind. Ich bekomme vor Schreck eine Gänsehaut.“

Der Täter hat 69 Personen auf Utøya erschossen, 66 werden verletzt.

Jessen weckt seine Frau, und allmählich beginnen sie, den Umfang der Katastrophe zu begreifen.

Rätseln um den Täter

Doch so ganz ist es doch noch nicht ins Bewusstsein gedrungen. Kim Jessen besteht darauf, wie fast jeden Sonnabend einen Flohmarkt zu besuchen. Ein Flohmarkt, der in der menschenleeren Stadt selbstverständlich nicht stattfindet.

„Dieses Wochenende, ja, die gesamte darauffolgende Woche, erscheint mir vollkommen irreal.“

Bereits in der Nacht zum Sonnabend wird bekannt, dass ein Rechtsextremer aus dem eigenen Land die Anschläge verübt hat.

Ich bin wahrlich alles andere als ein Sozialdemokrat, aber Jens Stoltenbergs Auftritte haben die Nation geeint. In so einer Situation ist es für die Bevölkerung wichtig, dass einer den Weg weist.

Kim Jessen

„Am Abend habe ich mir nicht vorstellen können, dass ein Norweger eine solche fürchterliche Tat begehen konnte. Für diesen Gedanken habe ich mich nun fürchterlich geschämt“, erzählt der Nordschleswiger.

Er lobt ausdrücklich das Auftreten des damaligen sozialdemokratischen Staatsministers, Jens Stoltenberg.

„Ich bin wahrlich alles andere als ein Sozialdemokrat, aber Jens Stoltenbergs Auftritte haben die Nation geeint. In so einer Situation ist es für die Bevölkerung wichtig, dass einer den Weg weist.“

Kim Jessen schämt sich über den Gedanken, der Anschlag sei von ausländischen Terroristen begangen worden. Foto: Privatfoto

Im Regierungsviertel sind die Spuren des Bombenanschlags auch zehn Jahre später noch sichtbar. Die Gebäude sind noch nicht vollständig wieder aufgebaut.

„Ich bin gerade gestern (Montag, Red.) wieder dort vorbeigefahren, und man sieht es noch deutlich. Aber ansonsten ist für mich wieder Alltag.“

Ich hoffe innerlich, dass ich einen solchen Tag nie wieder erleben muss.

Kim Jessen

Dabei ist Kim Jessen durchaus bewusst, dass dies nicht für alle gilt.

„Für die, die ihre Kinder und Liebsten verloren haben, wird es wohl nie wieder einen normalen Alltag geben.“

Und auch wenn er im täglichen Leben nicht mehr laufend an den 22. Juli 2011 denkt, so ist eines gewiss: „Diesen Tag werde ich nie vergessen, und ich hoffe innerlich, dass ich einen solchen Tag nie wieder erleben muss.“

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