Kulturkommentar
„Auswendiglernen ist nichts nur für die Vorgestrigen“
Auswendiglernen ist nichts nur für die Vorgestrigen
Auswendiglernen ist nichts nur für die Vorgestrigen
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Büchereidirektorin Claudia Knauer findet, wir trainieren unser Erinnerungsvermögen zu wenig. Warum das Auswendiglernen von Gedichten sinnvoll ist.
Telefonnummer? Hab ich im Handy. Adresse? Google ich. Wegbeschreibung? Sagt mir Google Maps. Login-Daten zum Bankkonto? Sind im PC gespeichert. Unser Gehirn muss keine Gedächtnisüberstunden mehr leisten. Alles ist irgendwo digital gespeichert oder – im Falle man hat nichts so recht fürs Smartphone und das ständige Wischen übrig – irgendwo in einem Büchlein notiert, das man im günstigsten Fall irgendwann auch wiederfindet.
All diejenigen, die sich auf das digitale Speichern verlassen, müssen hoffen, dass nicht irgendwann ein Sonnensturm eine solche Magnetwelle auslöst, dass das Leben in der Cloud sich erst einmal verabschiedet. Oder dass man das Handy nicht in die Toilette fallen oder im Taxi liegen lässt. Dann kann man nämlich nicht mal mehr eine Banküberweisung tätigen oder per Mobilepay bezahlen, weil die MitID weg ist. Es sei denn, man ist so klug und hat sie wirklich an mehreren Stellen installiert.
Wir trainieren unser Erinnerungsvermögen einfach zu wenig. Früher – für die jungen Menschen unter euch: das war in der guten alten Zeit – konnten wir mindestens zehn Telefonnummern und Adressen auswendig. Noch viel wichtiger aber finde ich – zugegebenermaßen beruflich vorbelastet – das Auswendiglernen von Gedichten. Das schult den Geist und tut der Seele wohl.
Die Tochter konnte in ihrer Grundschulzeit (danke liebe Lehrerin, du hast das toll gemacht) alle 14 Strophen von James Krüss’ „Weihnachtsmaus” aus dem Kopf hersagen und hat das im Kaufhaus vor dem Weihnachtsmann auch gemacht – er wurde recht ungeduldig dabei. Ich selbst kann auch etliche Gedichte auswendig und liebe es. Man ist nie allein damit.
Auch wenn ihr es nicht überprüfen könnt, ich verspreche, diese Zeilen hier habe ich ohne Griff zur Gedichtsammlung niedergeschrieben.
Im Nebel ruhet noch die Welt
Noch träumen Wald und Wiesen
Bald sieht du – wenn der Schleier fällt
Den blauen Himmel unverstellt
Herbstkräftig die gedämpfte Welt
Im warmen Golde fließen.
(Eduard Mörike)
Oder
Herr, es ist Zeit
Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren
Und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein
Gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin
Und jage die letzte Süße in den schweren Wein
Wer jetzt kein Haus hat,
baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist
Wird es lange bleiben
Wird wachen, lesen
Lange Briefe schreiben
Und in den Alleen hin und her unruhig wandern
Wenn die Blätter treiben
(Rainer Maria Rilke)