Grenzland-Novelle

Ingo & Josefine

Ingo & Josefine

Ingo & Josefine

DN
Nordschleswig
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Christina Englund Foto: jv.dk

Christina Englund war eine Woche in Apenrade und im deutsch-dänischen Grenzland. Herausgekommen ist dabei die Novelle „Ingo und Josefine“.

Im Frühjahr 2019 reisten 20 Autoren des dänischen Autorenverbandes, Dansk Forfatterforening,  im Rahmen des Projektes „Wer ist Dänemark“ in die verschiedenen Regionen des Landes, um dort Inspiration und Stoff  für  neue Novellen zu sammeln.

Christina Englund war eine Woche in Apenrade und im deutsch-dänischen Grenzland.  Herausgekommen ist dabei die Novelle „Ingo und Josefine“, die wir heute abdrucken.
„Menschen und Orte sind eng miteinander verknüpft. Orte prägen uns, und wir prägen Orte. Deshalb ist „Wer ist Dänemark“ ein  tolles Projekt“, sagt die Autorin Ida-Marie Rendtorff, die in Aarhus unterwegs war.

Nachdem alle Autoren ihre Geschichten geschrieben haben, kehren sie in diesen Wochen wieder  zurück an den Ort  ihrer Inspiration, um  mit Schülern zu arbeiten. Außerdem gibt es offene Veranstaltungen in den Büchereien. Christina Englund kommt am Donnerstag, 3. Oktober nach Apenrade.
Das Projekt ist mit 2,3 Millionen Kronen von der Nordea-Stiftung gefördert. Mehr auf: hvemerdanmark.dk

Eine Novelle aus dem Grenzland:

Jetzt ist es soweit. Genau so denkt sie. Jetzt. Sie sieht mehrmals auf ihr Handy, ohne richtig mitzubekommen, wie spät es ist. Checkt, dass der Pappkarton immer noch vor ihren Füßen steht, voll von all dem Zerbrechlichen, das es bald vielleicht nicht mehr geben wird. Draußen flimmern die Felder in der Dämmerung vorbei. Auf dem Sitz neben ihr rührt Ingo sich.

Der Blick des Taxifahrers trifft sie im Rückspiegel. Als wolle er sich vergewissern, dass dies wirklich der richtige Weg ist, dass sie sich ihrer Sache sicher ist und nicht zuletzt: dass sie zahlen kann.

– Möchten Sie die Karte jetzt schon haben? Sie zwängt ihre Hand in die Hosentasche.

Der Fahrer winkt dankend ab und dreht die Anlage lauter, aus der eine Frauenstimme in einer Sprache singt, die sich nach Russisch anhört. Er schien eigentlich ganz okay, als sie 10 Minuten zuvor an der Ecke Haderslevvej einstieg. Erst jetzt wird ihr klar, dass sie den Aufzug doch nicht zu sehen bekommt.

Josefine hebt die Hand, flatternd, streift Ingos Haare, mehr traut sie sich nicht. Wie kann er denn bloß schlafen? Selbst spürt sie seine Nähe wie eine Schwere im Körper.
Als Ingo sich anders hinsetzt, streift sein Oberschenkel ihren. Aus Versehen tritt sie mit dem Fuß gegen den Karton. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit her, dass sie in dem Wartehäuschen saßen und auf den Bus warteten, der niemals kam. Die Küsse. Heute Nacht werden wir in Flensburg feiern, denkt sie. Nur du und ich.

Als sie heute früh in ihrem alten Bett aufwachte, stand der Karton auf der Fensterbank. Obwohl alle noch schliefen, vernahm sie fast das Klappern der Pferde über die gepflasterten Straßen. Bald würden Leute erscheinen und die Laternenpfähle mit Blumen beschmücken, ihre Fahnen ausrollen. Früher einmal befand sich auf der Etage unter ihnen der falsche Bäcker. Der, bei dem ihre Oma nicht einkaufen durfte. Nun wohnt dort ein Mann, der seine Frau verprügelt. Josefines Mutter hat ihn mehrmals bei der Polizei angezeigt. Sobald die Polizei aus dem Haus ist, fängt er wieder zu brüllen an und wirft die Möbel herum.

Josefine ist seit Weihnachten nicht mehr zuhause gewesen. Erst als sie aus dem Bus stieg und die Schilder sah, fiel ihr das Ringreiterfest wieder ein.
Sie hatte Ingo gegen Abend am Baum auf dem Marktplatz gefunden.

– Jose? Nuschelte er. – Bist du’s? Sein Blick war verschwommen. Sie setzte sich neben ihn mit dem Karton in den Armen. Konnte ihr Glück gar nicht fassen.     

– Weißt du noch, wie wir den Leuten hinterhergespuckt haben, von deiner Fensterbank?

– Das hatte ja nichts zu bedeuten. Sie lächelte zaghaft.

– Nee, seufzte er. – Aber jetzt schon. Er wandte sich zu ihr. – Das waren Zeiten, da konnte man der Schule noch 'ne Bombendrohung schicken, ohne dass gleich die Welt untergegangen wär‘.

Josefine hätte ihn gern fragen wollen, was aus ihm geworden war, wo er gewesen war, seit sie die Schule verließen. Aber etwas in seiner Stimme hielt sie zurück. Nun sitzt Ingo da und starrt ins Dunkle. – Wo bin ich, Jose? Er sieht auf ihre Schenkel, dicht an seinen, sieht den Karton vor ihren Füßen. – Was mach‘ ich hier?

– Du wolltest selber mit, versucht sie, – Du musstest weg. Du hast Nietzsche zitiert, du … Der Fahrer verlangsamt, als das Grenzhäuschen vor ihnen erscheint. Ein Heimwehr-Soldat steht über ein anderes Auto gebeugt. Richtet seine Stablampe auf sie.

– Setz dich richtig hin, faucht Josefine. Es vergeht ein Moment, ehe Ingo begreift, dass er gemeint ist.

– Ich kann das nicht, murmelt er, reißt die Tür auf und läuft über die Straße. Ingo, will sie rufen, aber da ist nur dichtes Gestrüpp. Als sie danach ihren Pass durch das Fenster reicht, spürt sie nichts. Erst als sie die Grenze passiert haben, sieht sie der Fahrer im Rückspiegel an. Josefine beugt sich vor und hebt den Karton vorsichtig auf ihren Schoß. Etwas so Zerbrechliches zu verfrachten ist nicht leicht, nur einsam. Genau hier fängt Europa an, und wir hören nicht auf, denkt sie, es wird niemals aufhören. Jetzt ist es soweit.

Deutsche Übersetzung: Uschi Tech

 

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