Leitartikel

„Es ist wichtig, dass wir in der Provinz die gleiche Freiheit haben wie die Menschen in den Städten“

Aus der Provinz Freiräume statt dunkle Winkel machen

Aus der Provinz Freiräume statt dunkle Winkel machen

Apenrade/Aabenraa
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Bus
Busse bringen Leben ins Land, meint Cornelius von Tiedemann (Symbolfoto). Foto: Cornelius von Tiedemann

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Dörfer sterben, wenn sie unerreichbar sind. Dörfer leben, wenn Kinder, Jugendliche, Alte, Behinderte, Wohlhabende und finanziell Gebeutelte sie jederzeit und auf eigene Faust bequem erreichen – und verlassen können. Deshalb plädiert Cornelius von Tiedemann dafür, die ländlichen Räume endlich zu priorisieren. Er würde dafür auch auf Feiertage verzichten.

Dänemarks ländliche Räume sind dem stillen Tod geweiht, wenn nicht bald etwas Entscheidendes passiert. Denn die Provinz in Dänemark ist nicht, was sie sein sollte: für alle erlebbarer Freiraum, auch frei nach Grundtvig.

Einen Leitartikel in Dänemark mit Grundtvig zu beginnen, ist vielleicht nicht originell – manchmal aber angebracht. Auch wenn die Ideen des nationalromantisch angehauchten Oberdänen aus einer anderen Zeit stammen.

Denn Freiheit bedeutet immer auch Rücksichtnahme. Chancengleichheit.

Cornelius von Tiedemann

Grundtvig selbst hat, soweit ich weiß, seine Ansichten unterwegs auch mal verändert – was nicht gegen ihn spricht. Ein Leitmotiv seines Wirkens war es aber immer, frei modernisiert ausgedrückt, dass in der Gesellschaft der einzelne Mensch größtmögliche Freiheit anstreben und erlangen können sollte – um diese dann für das Gemeinwohl einzusetzen.

Freiheit ist ein großes Wort – das oft missverstanden wird. Denn Freiheit bedeutet immer auch Rücksichtnahme. Chancengleichheit.

Doch gibt es die zwischen Stadt und Land in Dänemark heute?

Eine Partei, eine Regierung nach der anderen brüstet sich damit, Dänemark zusammenhalten zu wollen. Die ländlichen Räume stärken zu wollen. Der Kopenhagenerei ein Ende bereiten zu wollen.

Es werden Hochschulen und Behörden auseinandergerissen und verlegt. Es wird frustrierten Menschen aus den strukturschwachen Gegenden politisch nach dem Mund geredet, und einfache Lösungen für komplexe Probleme werden versprochen. Zum Beispiel weniger Einwanderung – oder neue Autobahnanschlüsse.

Doch was hilft es? Wenig bis nichts. Weil nicht auf die Ursachen geblickt wird, sondern lediglich auf Symptome. Weil nicht aufgebaut wird, sondern lediglich verschoben. Grundtvig hatte seine Gründe, ein vorsichtiger Demokrat zu sein: Gut Ding will eben manchmal Weile haben und nicht von der Hektik des politischen Stimmungskampfes bestimmt werden.

Wichtigster Wohlfühlfaktor in der Stadt: Unabhängigkeit

Im Grenzland ist der Gesinnungskampf, zu dem Grundtvig das Seine beitrug, zum Glück längst Geschichte. Das glänzende deutsch-dänische Verhältnis wird in einer Sonntagsrede nach der anderen abgefeiert. Doch das große Potenzial des deutsch-dänischen Grenzlandes – bisher scheinen vorwiegend Hauskäuferinnen und -käufer aus Deutschland es zu begreifen.

Wer mobil ist, findet leichter Anschluss, Austausch, Ausbildung, einen Arbeitsplatz, verdient mehr und ist zufriedener.

Cornelius von Tiedemann

In Dänemark ist Nordschleswig tiefste Provinz. Und für manche ist die Lösung einfach: Institutionen aus Kopenhagen in die Provinz schieben, dann wird alles gut. Doch die Rechnung geht nicht auf. Denn mit den Behörden kommt keine Veränderung. Sie sind keine Befreiung.

Bevor wir irgendwelche Behörden oder Hochschulen hin- und herschieben, bevor wir Menschen aufs Land zwingen, die dort offensichtlich nicht hinwollen, benötigen wir auf dem Lande die gleiche Unabhängigkeit, wie die Menschen sie an Kopenhagen schätzen.

Der Schlüssel: Zugang zu Mobilität. Denn sie hat maßgeblichen Einfluss darauf, ob Menschen sich privat und beruflich, ökonomisch und menschlich entwickeln und Erfolge feiern können. Wer mobil ist, findet leichter Anschluss, Austausch, Ausbildung, einen Arbeitsplatz, verdient mehr und ist zufriedener.

Die Provinz wird kulturell und sozial niemals zur Metropole, zum Schmelztiegel. Doch sie kann Treffpunkt von Kulturen und Ideen, Lebensentwürfen und Schicksalen sein. Wenn sie ein erreichbarer Freiraum ist.

In einem hoch entwickelten Land wie Dänemark ist dies nicht nur möglich – sondern die einzige Chance, wie das Land zusammengehalten werden kann, auch mental.

Damit die dänische Provinz zu diesem Freiraum werden kann, muss sie für alle und jederzeit zuverlässig erreichbar und erlebbar sein. Nicht nur für Menschen, die in der Lage sind, Auto zu fahren.

Zeitgemäßes Leben auf dem Lande möglich machen

Seniorinnen und Senioren müssen in den Dörfern bleiben können, in denen sie ihre Leben verbracht haben. Sie sollen mobil leben können, ohne ständig auf die Hilfe anderer, mit Autos oder Flexbussen, angewiesen zu sein.

Kinder und Jugendliche sollen jederzeit zu Freunden, Familie, Trainings, Schule oder Ausbildung gelangen, ohne abhängig zu sein von Menschen, die sie umherkutschieren. Wer abends noch in den Kro oder zum Sport will, soll das können, ohne Auto.

Wer neu in die Gegend zieht, soll sie erkunden können, soll an Bushaltestellen ins Gespräch kommen, soll sich von Anfang an frei fühlen – und nicht ans Ende der Welt versetzt.

Nur so kann es mit Nordschleswig und anderen ländlichen Räumen vorwärtsgehen.

Keine politische Lobby

Stattdessen wird gespart. Es werden Buslinien gestrichen oder verteuert. So schlecht ist das Angebot, dass die Passagiere wegbleiben. Was wiederum dazu anregt, noch mehr zu sparen.

Dass es noch Angebote über die Grenze hinweg gibt, grenzt da schon fast an ein Wunder.

Und ein ebensolches Wunder wäre es wohl, wenn die Parteien auf Christiansborg die Verantwortung für den lokalen und regionalen öffentlichen Personenverkehr nicht mehr auf die Kommunen und Regionen schieben, sondern endlich ein massives Investitionsprogramm beschließen würden.

Leider steht das nicht auf der Tagesordnung. Auch deshalb, weil die traditionell auf dem Lande starken Parteien das Auto als Ausdruck größtmöglicher individueller Freiheit sehen. Diese Art der Mobilität ist auf dem Lande wichtig – aber keine Lösung der Probleme. Weil sie viele ausschließt. Kinder, viele Senioren, Behinderte, Menschen, die nicht Auto fahren können oder wollen. Stichwort: Gemeinwohl!

Wunder – oder Willen?

Ich weiß nicht, wie es anderen geht. Aber ich zumindest wäre bereit, ein bis zwei Feiertage zu opfern, um ein Mobilitätswunder mitzufinanzieren. Damit Bahnen und Busse in enger Taktung rund um die Uhr durch die Dörfer und Kleinstädte fahren – und damit aus Nordschleswig, dem Grenzland und anderen angeblich toten Winkeln wieder lebendige Freiräume werden.

Um zum Schluss Bjarke Ingels, einen anderen berühmten Dänen (der sogar noch lebt) frei zu zitieren: Wenn wir Menschen es schaffen, unsere Welt ungeplant massiv zum Negativen zu verändern, dann ist doch kaum vorstellbar, was wir alles erreichen können, wenn wir sie bewusst positiv gestalten! 

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