Leitartikel

„Deutsche Minderheit – im Ab und Auf von Volksabstimmungen“

Deutsche Minderheit – im Ab und Auf von Volksabstimmungen

Deutsche Minderheit – im Ab und Auf von Volksabstimmungen

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Apenrade/Aabenraa
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Die Geschichte der Volksabstimmungen in Dänemark hat die deutsche Minderheit seit ihrer Geburt wider Willen geprägt, letztlich aber auch zur Wende im deutsch-dänischen Grenzland geführt. Der ehemalige „Nordschleswiger“-Chefredakteur Siegfried Matlok analysiert wichtige Stationen auf diesem Weg.

Die deutsche Minderheit wurde 1920 durch eine Volksabstimmung geboren – damals gegen ihren Willen! Was jedoch oft übersehen wird – auf dänischer Seite sogar oft etwas verschämt verdrängt – ist die Tatsache, dass die „Wiedervereinigung“, die staatlich am 15. Juni 1920 vollzogen wurde, erst durch eine Volksabstimmung über das neue – auch für Nordschleswig – Grundgesetz bestätigt werden musste.

Am 6. September 1920 fand diese Volksabstimmung statt. Das notwendige Quorum lag bei 45 Prozent Ja-Stimmen aller Wahlberechtigten im Lande, um das bisherige Grundgesetz vom 4. Juni 1915 zu ersetzen. Die erst im organisatorischen Aufbau befindliche deutsche Minderheit blieb überwiegend aus Protest zu Hause, es gab – verständlicherweise – keine Ja-Empfehlung zum – wie es hieß – „staatsrechtlichen Abschluss der Einverleibung Nordschleswigs“.

Die „Neue Tondernsche Zeitung“ sprach von einem „kläglichen Ergebnis“, denn bei 47,5 Prozent Ja brachten nur 2,5 Prozent mehr Stimmen als erforderlich die Verfassungsänderung überhaupt zur Annahme. 51 Prozent (!) aller Wähler hatten sogar nicht teilgenommen! Die Entscheidung war hauchdünn: Von den 49 Prozent der abgegebenen Stimmen votierten zwar nur 1,5 Prozent für ein Nein, doch die dänische Presse hatte nach dem „Genforeningsjubel“ keinen Grund zu triumphieren – im Gegenteil!

Die liberale Kopenhagener Tageszeitung „Politiken“ schrieb angesichts der Tatsache, dass das Mindestergebnis bei 1,3 Millionen Stimmenberechtigen nur mit wenigen Tausenden Stimmen überschritten worden war, folgenden bissigen Kommentar: „So nahe war es daran, dass der große Skandal geschah und Dänemark zum Spott für die ganze Welt wurde. Das Grundgesetz wurde gerettet, aber die Ehre nur knapp.“   

Immerhin, für die deutsche Minderheit enthielt das neue Grundgesetz die Möglichkeit einer parlamentarischen Vertretung, da nun auch erstmalig Abgeordnete aus Nordschleswig gewählt werden konnten. Bei den Folketingswahlen am 26. April 1920 und danach am 7. Juli 1920 hatte sich die Minderheit nicht beteiligt, doch schon wenige Tage nach dem Inkrafttreten des neuen Grundgesetzes am 10. September wurden die Wähler zum dritten Male innerhalb kürzester Zeit erneut zur Wahlurne gerufen. Und auf der Liste T (Slesvigske Parti) eroberte am 21. September 1920 Pastor Johannes Schmidt-Wodder mit 7.505 Stimmen das erste deutsch-nordschleswigsche Folketingsmandat auf Christiansborg.

Dass sich die deutsche Minderheit, die erst ihren Platz im dänischen Königreich finden und erkämpfen musste, bei Volksabstimmungen schwertat, zeigte sich besonders beim Referendum am 23. Mai 1939, das unter anderem die Aufhebung des Zwei-Kammer-Systems mit Landsting und die Einführung eines nationalen Reichstages vorschlug.  

90 Prozent der Wahlberechtigten im ganzen Lande stimmten zwar für die Reform, doch es fehlten am Ende 0,5 Prozent, um die 45-Prozent-Hürde zu meistern. Die deutsche Minderheit hätte mit einem klaren Ja sogar diese 45 Prozent schaffen können, denn bei der kurz zuvor stattgefundenen, nationalpolitisch heftig umkämpften Folketingswahl am 3. April 1939 hatte die Partei der deutschen Minderheit ihr Höchstergebnis von 15.134 Stimmen zu verzeichnen.

Stattdessen wurde von oben am 17. Mai 1939 „keine Beteiligung an der Verfassungswahl“ verordnet. Die Begründung: „Unsere Verfassung ist die nationalsozialistische Idee unseres Führers. Aus dieser Idee heraus bauen wir unsere Volksgruppe auf, führen wir den Kampf  um die nordschleswigsche Heimat und dienen wir der Gesamtheit unseres Volkes“, so lautete etwa der Aufruf der NSDAP-N in der „Nordschleswigschen Zeitung“.

Dass dieser Boykott der Minderheiten-Führung Wirkung hatte, zeigten die Ergebnisse aus den Wahlkreisen Tondern und Lügumkloster, wo sich nur ein Viertel der Stimmberechtigten für ein Ja aussprach. 

Die schwere Zeit nach der deutschen Besetzung Dänemarks 1940-1945 und dem ideologischen Kollaps der deutschen Minderheit, auch die Tatsache der Rechtsabrechnung teilweise mit Gesetzen rückwirkender Kraft, sorgte nicht für ein größeres Vertrauen der deutschen Nordschleswiger in den dänischen Staat. Eine Wende trat erst mit der Volksabstimmung am 5. Juni 1953 ein, die wesentliche Grundgesetzänderungen brachte.

Heute wird diese Volksabstimmung oft nur mit der neu geschaffenen Möglichkeit der weiblichen Thronfolge in Verbindung gebracht, was ja schließlich 1972 Margrethe II. zur Königin machte, aber es gab andere Elemente, die bei der Volksabstimmung aus der Sicht der deutschen Minderheit von höchstem Interesse für die eigene Zukunft waren.

Die Einführung des Ein-Kammer-Systems – also Verzicht auf Landsting – machte ein neues Wahlgesetz erforderlich, auch für Nordschleswig gute Chancen auf ein eigenes Mandat, das es seit 1943 (Jens Møller) nicht mehr gegeben hatte. „Es sind Stimmen laut geworden, die erklären, was geht uns die Verfassung an? Hat man etwa 1945  auf die Bestimmung der Verfassung geachtet, dass ein Verhafteter innerhalb von 24 Stunden dem Richter vorzuführen sei?“, schrieb „Der Nordschleswiger“ und leugnete nicht, dass diese Kritik in der deutschen Minderheit zu hören war, doch erstmalig seit 1920 rief die Minderheit durch den Hauptvorstand des Bundes deutscher Nordschleswiger zur Teilnahme an einer dänischen Volksabstimmung  auf – und vor allem zu einem Ja!

„Mit Rücksicht auf die verstärkte Möglichkeit, nach Annahme der Verfassungsreform einen Vertreter der deutschen Minderheit in den dänischen Reichstag zu entsenden, fordert der Hauptvorstand die Mitglieder der Volksgruppe – soweit sie nicht schwerwiegende grundsätzliche Bedenken gegen die neue Verfassung geltend machen –, sich am 28. Mai an der Volksabstimmung zu beteiligen und für die Verfassungsreform zu stimmen“, hieß es in einem Aufruf in der Zeitung am Wahltag. Aber es wurde wieder einmal spannend, die dramatische Auszählung aller Stimmen ergab am Ende, dass das Quorum von 45 Prozent nur hauchdünn mit 45,76 Prozent übersprungen wurde. Es fehlten also nur knapp 20.000 Stimmen an einem Nein!

In Nordschleswig gab es mit 46,7 Prozent eine geringfügig höhere Mehrheit für die Annahme; die Wahlkreise Apenrade und Lügumkloster blieben jedoch unter der 45-Prozent-Marke. In einem schriftlichen Bericht über die politische Entwicklung der deutschen Minderheit, die von der Polizei noch 1953 „überwacht“ wurde, hieß es unter Hinweis auf den „Nordschleswiger“, „dass in Nordschleswig nur dank der deutschen Stimmen eine Ja-Mehrheit erzielt worden ist“.

Ob entscheidend oder nicht, der Beitrag hat sich jedenfalls gelohnt. Bei der Folketingswahl am 3. April 1953 kam Spitzenkandidat Hans Schmidt-Oxbüll auf 8.539 Stimmen, kein Mandat, doch bei der nächsten Folketingswahl – also nur wenige Monate nach der Volksabstimmung – erhöhte er den Anteil der Stimmen für die deutsche Minderheit auf 9.721 und gewann am 22. September 1953 damit ein Folketingsmandat für die Schleswigsche Partei.  

Volksabstimmungen haben in Dänemark inzwischen eine feste Tradition, vor allem hat es seit dem Beitritt zur EWG 1972 zahlreiche Abstimmungen zu europäischen Fragen gegeben. Wenn in einem Rückblick auf ein historisches Ergebnis verwiesen werden soll, das für die deutsche Minderheit eine neue Standortbestimmung eröffnete und die deutsch-dänische Zusammenarbeit mit einer europäischen Klammer von immer größerer Bedeutung versah, dann muss der 2. Oktober 1972 erwähnt werden. Es war auch für viele Dänen eine demokratische Entscheidung über die Frage einer engeren Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland.

Dass 63 Prozent der in Dänemark abgegeben Stimmen für ein Ja plädierten – in Nordschleswig sogar 75 Prozent der abgegebenen Stimmen – war Ausdruck eines neuen langsam gewachsenen Vertrauens zwischen unseren beiden Ländern und vor allem im Grenzland unter Nachbarn zwischen Deutschen und Dänen.

Eine Untersuchung ergab später, dass fast 99 Prozent (!) der deutschen Nordschleswiger 1972 für den dänischen EWG-Beitritt gestimmt haben. Diese EU-Begeisterung ist inzwischen deutlich reduziert, aber eine Analyse der Ergebnisse bei Volksabstimmungen seit 1992 ergab durchschnittlich eine Mehrheit für mehr Dänemark in der EU. Jedoch sollte man nicht vergessen, dass es bei der Volksabstimmung über den Euro im Jahre 2000 nicht nur in Dänemark, sondern erstmalig auch in Nordschleswig eine Nein-Mehrheit gab, wohl auch in der deutschen Minderheit, wie unser damaliger Wahlexperte Hermann Heil berechnete.

Die Teilhabe am dänischen Staat setzt jene demokratische Mitverantwortung voraus, die die deutsche Minderheit gerade im Hinblick auf Europa seit 1972 nachdrücklich bewiesen hat.

Deshalb bitte zur Wahl!

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