Leitartikel

„Der letzte Tourist in Europa?“

Der letzte Tourist in Europa?

Der letzte Tourist in Europa?

Kopenhagen
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Die Corona-Pandemie hat schlaglichtartig Schwächen und Mängel der europäischen Zusammenarbeit aufgezeigt. Nun gilt es, Europa – ein weiteres Mal - neu zu entdecken, meint Walter Turnowsky.

„Jeg er kommet for at møde mit Europa
og den gamle verden, som engang var min.“

Diese Zeilen, geschrieben von Hans Damm mit einer Melodie von Henrik Blichmann, sang 1948 die Sängerin Lulu Ziegler unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs.

Den Song gibt es auch in einer deutschen Fassung, gesungen von Sonja Kehler. Hier lautet der Refrain:

„Ich bin der letzte Tourist in Europa,
und wie eine Ruhelose irre ich umher.

Der Sänger Steffen Brandt von der Band „TV-2“ hat den Song im Mai des vergangenen Jahres wieder aufgegriffen. Die Corona-Pandemie hatte ihn dazu veranlasst einen aktualisierten Text zu schreiben.

Bereits in der zweiten Zeile hat er die „alte Welt“ gegen die „weite Welt“ ausgetauscht.

Wie in der originalen Ausgabe sucht auch Brandts letzter Tourist nach den Spuren dessen, was Europa ausmacht.

Gerade im Grenzland haben wir deutlich gespürt, wie der Gedanke eines geeinten Europas sehr schnell während der Pandemie unter Druck geriet. Die Betonklötze an der Grenze waren nur das sichtbare Symbol eines Europas, wo jeder sein eigenes Süppchen kochte. Eine gemeinsame Antwort auf die Krise gab es und gibt es nicht.

Einzige löbliche Ausnahme: die Beschaffung, Anerkennung und Verteilung der Impfstoffe. Ansonsten fehlt bis heute eine wirklich gemeinsame Strategie. Als Beobachter hat man oft den Eindruck, die Behörden und Politiker eines Landes meinen, sie seien schlauer als alle anderen.

So ist die Pandemie auch zu einem Prisma geworden, das Schwächen und Mängel der EU-Zusammenarbeit deutlich zutage treten ließ. Wer hingeschaut hat, konnte dies allerdings schon beim Umgang mit der Flüchtlingssituation entdecken.

Der Abschied der Briten hat die europäische Wertegemeinschaft herausgefordert. Eine noch größere Herausforderung ist jedoch wohl, das Agieren der Regierungen in Ungarn und Polen, dass Werte infrage stellt, die in der Mehrzahl der europäischen Länder als grundsätzlich gelten.

Doch auch das ist noch nicht die größte Herausforderung. Der Kern des Problems ist, dass kaum einer noch wirklich bereit ist, sich mit ganzem Herzen für europäische Lösungen einzusetzen. Die deutsche Bundesregierung gehört zu den wenigen, die dies zumindest teilweise noch im Auge haben.

„Der går et spøgelse igennem mit Europa
Som ikk' engang Karl Marx ku' ha' forudsagt
En kollektiv straf for svig og smerte
For at bryde en indgået kontrakt
“, so die Brandtsche Diagnose der Situation

Derzeit arbeitet die dänische Regierung daran, dass die Länder wieder ganz eigenständig darüber entscheiden sollen, ob und wie sie an der Grenze kontrollieren wollen.

Im Herbst sollen die Regeln der Schengen-Zusammenarbeit neu verhandelt werden, und hier wird die Regierung versuchen, den Vorschlag durchzusetzen.

EU-Innenkommissarin Ylva Johansson plädiert dagegen dafür, die volle Freizügigkeit wieder herzustellen und auf weitere Länder auszudehnen.

Dass es in dieser Frage etwas zu besprechen gibt, belegt die Tatsache, dass die europäischen Regierungen während der Corona-Krise mehr temporäre Grenzschließungen eingeführt haben als in den gesamten 13 Jahren der Schengen-Zusammenarbeit davor.

Die Vizedirektorin des Think-Tanks „Europa“, Catharina Sørensen, sagte im „DR“-Magazin „Deadline“, dass sowohl jene, die mehr an den Grenzen kontrollieren möchten als auch jene, die für vollkommen offene Grenze sind, sich durch die Pandemie in ihren Argumenten bestätigt fühlen. Die zwei Flügel ständen sich nun sehr deutlich gegenüber.

Bei der europäischen Zusammenarbeit geht es jedoch um viel anderes als um offene Grenzen. Es geht darum, sich auf die zentralen Aufgaben und Werte der Zusammenarbeit zu besinnen. Dabei sollte man auch den Mut haben, vieles von dem, was die EU regelt, was jedoch eigentlich nicht auf die europäische Ebene gehört, wieder den Staaten zu überlassen.

Der Song endet in beiden Fassungen mit der Hoffnung auf einen Neuanfang. Bei Steffen Brandt klingt das so:

„Jeg er den første turist i Europa
Til at møde en ny og anderledes dag
.“

Die Frage ist, wer es sein wird, der oder die den Tatendrang besitzt, als Erste Europa – ein weiteres Mal – neu zu entdecken.

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