Leitartikel

„Ein Lehrstück in funktionierender Demokratie“

Ein Lehrstück in funktionierender Demokratie

Ein Lehrstück in funktionierender Demokratie

Apenrade/Kopenhagen
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Eine zahlenmäßig überschaubare Gruppe aufgebrachter Bürger organisiert sich und tritt gemeinsam dafür ein, dass die Regierung ihre Pläne, ein Ausreisezentrum auf Langeland zu platzieren, zurücknimmt. Das war geschickt eingefädelt und zeigt, was Menschen erreichen können, die gemeinschaftlich auftreten, meint Nils Baum.

Zwei Kurswechsel innerhalb weniger Tage, so lautet die aktuelle Bilanz in der Ausländerpolitik der Regierung. Die erste 180 Grad Wendung galt den 19 Kindern in syrischen Gefangenenlagern, die die Regierung nun doch nach Dänemark holen will. Der zweite Kurswechsel kam am späten Dienstagabend, als Ausländer- und Integrationsminister Mattias Tesfaye (Soz.) bekanntgeben musste, dass die Pläne für die Platzierung eines Ausreisezentrums auf Langeland abgeblasen sind.

Dabei waren diese Pläne noch nicht mal eine Woche alt.

Die Regierung wollte mit der Neuplatzierung des Ausreisezentrums ein Wahlversprechen einlösen. Die 130 abgewiesenen und straffällig gewordenen Asylbewerber, die derzeit in Kærshovedgård untergebracht sind, sollten nicht länger für Unsicherheit unter den Bürgern zwischen Herning und Silkeborg in Mitteljütland sorgen.

Stattdessen hatte sich die Regierung Langeland als neues Domizil für das ungeliebte Ausreisezentrum ausgeschaut. Nun ist Langeland ja keinesfalls unbewohnt, weshalb so mancher sich die Frage stellt, weshalb ein Ausreisezentrum bei den Langeländern für weniger Unmut sorgen sollte als bei den Mitteljüten.

Das Kalkül der Regierung muss deshalb wohl gewesen sein, dass es nicht so viele Langeländer gibt und der Proteststurm deshalb überschaubar bleiben würde. Außerdem gibt es auf Langeland keinen sozialdemokratischen Bürgermeister, weshalb keine Parteigenossen der Regierungspartei den kalten Gegenwind beim bevorstehendem Wahlkampf zu den Kommunalwahlen im Herbst fürchten müssen.

Doch diese Rechnung ging nicht auf.

Das Treffen zwischen Tesfaye und den eingeladenen Parteien am Dienstagabend dauerte nur etwas mehr als eine Stunde. Das reichte den Parteien aus, um dem Minister die klare Botschaft zu vermitteln „Nicht mit uns“. Das Treffen endete ohne konkrete Vereinbarung; klar war nur, dass es keine politische Mehrheit für eine Langeland-Platzierung gab.

Sehr zur Verärgerung des Ministers, der kurz nach Ende der abendlichen Zusammenkunft eine Pressemitteilung veröffentlichte, aus der dann plötzlich hervorging, dass die Pläne nun ad acta gelegt sind. Einen Plan B präsentierte der Minister nicht, vielmehr machte er anschließend seiner Frustration Luft, indem er unterstrich, dass diejenigen, die Macht an sich reißen, auch Verantwortung dafür trügen, dass eine Lösung gefunden werde.

Die Regierung hatte den blauen Block und die Volkssozialisten gegen sich. Und rund 250 Langeländer, die sich auf den Weg nach Kopenhagen gemacht hatten, um ihrer Forderung nach Rücknahme der Pläne lautstark Nachdruck zu verschaffen.

Das war geschickt eingefädelt. Der Bürgermeister von Langeland, Tonni Hansen (Volkssoz.), hatte im Hintergrund die Fäden gezogen und seine Parteikollegen auf Christiansborg alarmiert. Damit gelang es ihm, ein aus Sicht der Langeländer lokales Anliegen, nämlich die Sorge vor den Folgen eines Ausreisezentrums vor der eigenen Haustür, auf Landesniveau zu hieven. Die als Stützpartei der Regierung funktionierenden Volkssozialisten schlossen sich nämlich mit den Parteien des blauen Blocks zusammen, die von ihren Lokalpolitikern aus Langeland ebenfalls alarmiert worden waren und solidarische Unterstützung über Parteigrenzen hinweg versprachen – und somit war der Regierung die Mehrheit abhandengekommen.

Das mag mancher zwar als populistischen Schachzug der liberal-konservativen Parteien betrachten, nachdem deren Lokalabteilungen ihren Protest bereits lautstark bei der Wahl der Insel Lindholm als Ausreisezentrum organisiert hatten. Dennoch ist das Langeland-Zwischenspiel ein Lehrstück in funktionierender Demokratie. Eine aufgeschreckte Gruppe lokaler Bürger organisiert sich, der Bürgermeister holt sich landesweite Rückendeckung von seinen Parteikollegen, und schon rücken die Sorgen einer zahlenmäßig überschaubaren Bevölkerungsgruppe ins Zentrum der dänischen Politik.

Vielleicht eine Vorgehensweise, die auch andernorts für interessante Möglichkeiten sorgen könnte, um auf lokale Gegebenheiten aufmerksam zu machen und entsprechenden Forderungen mehr Druck zu verleihen. Man denke nur an die monatelang geschlossenen Grenzen, die in Nordschleswig zu viel Unzufriedenheit geführt haben. Trotzdem geschah lange Zeit – nichts.

Im Fall des Ausreisezentrums hat sich die sozialdemokratische Regierung blamiert. Sie wollte im Hauruck-Verfahren Fakten schaffen. Womöglich ist ihr die Machtfülle der vergangenen Monate, die die zahlreichen und weitreichenden Corona-Maßnahmen mit sich geführt haben, zu Kopfe gestiegen. Da ist es gut zu sehen, dass Volkes Stimme noch immer Gehör findet.

Zurück bleiben ein frustrierter Bürgermeister in der Kommune Ikast-Brande und deren Bewohner, die nun bis auf Weiteres das momentane Ausreisezentrum Kærshovedgård beherbergen dürfen. Ein fragwürdiger Nebenschauplatz bleibt die Tatsache, dass die Regierung das Grundstück, auf dem das Ausreisezentrum auf Langeland platziert werden sollte, bereits gekauft hat. Dafür wurden 13,5 Millionen Kronen Steuergelder ausgegeben.

Hoffentlich machen die Verantwortlichen nächstes Mal ihre Hausaufgaben und legen einen Plan mit mehreren Alternativen und konkreten Berechnungen vor, und unterlassen es zudem, den zweiten Schritt vor dem ersten zu machen.

Und hoffentlich nehmen sich die Menschen landauf landab dieses Beispiel als Lehrstück dafür, was man erreichen kann, wenn man gemeinschaftlich für etwas eintritt – denn Zusammenhalt können wir auch im Königreich Dänemark gut gebrauchen.

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