Schicksalsschlag

„Der Brand war ein großes Geschenk“

„Der Brand war ein großes Geschenk“

„Der Brand war ein großes Geschenk“

Bettina P. Oesten
Apenrade/Aabenraa
Zuletzt aktualisiert um:
Noch ist nicht klar, was mit dem abgebrannten Vennelyst passieren soll. Die Wohnungen, darunter die von Gitte Frydensbjerg, waren erst frisch renoviert worden. Foto: Karin Riggelsen

Gitte Frydensbjerg verlor im Mai bei einem Brand fast ihr gesamtes Hab und Gut. Heute, ein knappes halbes Jahr später, hat sich bei ihr eine bemerkenswerte Erkenntnis durchgesetzt: „Der Brand war ein großartiges Geschenk."

Der Brand – er schleicht sich zunächst unbemerkt an sie und die anderen Bewohner des Vennelyst-Anwesens am Abend des 6. Mai heran. Gegen 22 Uhr sitzt Gitte Frydensbjerg in ihrem Wohnzimmer und telefoniert mit einer Freundin, als die ersten Flammenzungen am Fenster hochschlagen und ihr blitzartig klar wird, dass sie schnell handeln muss.

Sie beendet abrupt das Gespräch, ruft ihren Sohn, alarmiert die Feuerwehr und die Nachbarn über und neben sich, und muss dann tatenlos zusehen, wie aus den anfänglichen Flammen schnell ein loderndes Feuer wird, das es vor allem auf ihre frisch renovierte Wohnung abgesehen hat.

Einige Tage später steht fest: 95 Prozent Totalschaden. Brandursache: aller Wahrscheinlichkeit nach die funkenhaltige warme Asche aus dem hauseigenen Holzpellet-Ofen, die jemand auf eine Schubkarre geladen und unterhalb ihrer Holzveranda abgestellt hat, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass ein vom Wind erfasster Funke auf das Holz überspringen könnte.

Aus Wohntraum wird Alptraum

„Alle Bewohner standen draußen vor dem Haus und haben zugesehen, wie ihr Hab und Gut in Flammen aufging, obwohl die Löschmannschaften ihr Bestes gaben. Unsere Wohnung hat es besonders schlimm erwischt. Ich habe mich die ganze Zeit gewundert, dass ich so gefasst war. Ich dachte: Okay, der eigentliche Schock kommt wahrscheinlich erst in ein paar Tagen.“

Noch in derselben Nacht – Gitte und ihr 15-jähriger Sohn Andreas sind inzwischen bei Verwandten untergekommen – kehrt sie zum Haus zurück, in das sie erst vor wenigen Monaten eingezogen ist. Es sollte die Erfüllung eines Wohntraumes werden, jetzt ist daraus ein böser Traum geworden.

Als Gitte ihren Eingangsbereich betritt, traut sie ihren Augen nicht. In ihrer durch und durch von pechschwarzem Ruß überzogenen Wohnung leuchtet ihr etwas Blaues entgegen. Ihr zu Füßen liegt ein aufgeschlagenes Buch, das sie am Abend vorher auf dem Küchentisch abgelegt hatte. Auf den beiden Vorsatzseiten  ist jeweils ein halber Schmetterling abgebildet, aufgeschlagen ergeben die beiden Hälften einen ganzen Schmetterling der Art „Blauer Morphofalter“.

Das Schmetterlingsbuch nach dem Brand am 6. Mai. Foto: Karin Riggelsen

 

Einsatzleiter der Polizei und Feuerwehr betreten nach ihr die Wohnung, sehen das Buch, fragen Gitte: Wie bitte! Was ist denn hier passiert? Keiner kann sich erklären, wie es dort auf dem Fußboden gelandet ist. Und wie kann es sein, dass ausgerechnet dieses Buch mit dem vielsagenden Titel „Gudernes føde“ von den Flammen völlig verschont blieb?

Gitte ist das, was man mit einem französischen Wort als Clairvoyant bezeichnet. Neben ihrer pädagogischen Tätigkeit empfängt sie seit vielen Jahren Menschen bei sich zu Hause, die in einer Lebenskrise stecken oder sich an einem entscheidenden Wendepunkt in ihrem Leben befinden, und gibt ihnen praktische und lebensnahe Ratschläge, wie sie neue Herausforderungen meistern können.

Schmetterling als Botschaft

Als der Spiritualität zugewandter Mensch weiß sie, dass der Schmetterling symbolisch für Wandel, Transformation und Wiedergeburt steht. Dass vor ihr auf dem gekachelten Fußboden eine Botschaft in Form eines „Himmelsfalters“, wie der Blaue Morpho auch genannt wird, liegt, daran zweifelt sie nicht eine Sekunde.

Den Polizisten und Feuerwehrleuten erzählt sie nichts davon, denn würden sie verstehen, dass sie inmitten ihres geplatzten Traumes himmlische Botschaften empfängt und die auch noch einzuordnen weiß?

Es vergehen weitere Tage, Wochen. Gitte und Andreas haben sich inzwischen in einem Ferienhaus einquartiert, müssen das Geschehene erst einmal verdauen.

95 Prozent Totalschaden

95 Prozent Totalschaden, das heißt: Nicht nur alle Möbel und andere Wertgegenstände sind dem Brand zum Opfer gefallen, auch Bücher, Fotos, Tagebücher, Lebensaufzeichnungen, alles vom Feuer aufgefressen. Doch langsam wächst bei ihr die Erkenntnis, dass sie den Brand vielleicht nicht so sehr als Fluch, sondern vielmehr als gut getarnten Segen betrachten sollte.

„Ich stand seit einiger Zeit in einem inneren Konflikt mit mir selbst. Hellsichtige Menschen wie ich kochen auch nur mit Wasser und haben von Zeit zu Zeit genauso mit handfesten Problemen zu kämpfen wie andere Menschen auch. Mir war klar: Irgendetwas läuft nicht rund in meinem Leben, aber ich wusste nicht, wie ich aus dem Konflikt wieder rauskomme. Ich wusste nur, dass wahrscheinlich etwas Drastisches passieren muss, um den Konflikt aufzulösen.“

Materiellen Dingen zu sehr verhaftet

Drastischer als durch einen Brand, der im Handstreich alles vernichtet, was einem lieb und teuer ist, geht es wohl kaum.

Der Konflikt habe u. a. darin bestanden, den materiellen Dingen zu sehr verhaftet gewesen zu sein, obwohl sie es eigentlich gar nicht wollte, sagt sie. Kochen sei ihre große Leidenschaft – sie habe Unsummen in Küchenutensilien wie Töpfe und Pfannen investiert, obwohl: Schmeckt das Essen besser, nur weil es in einem Topf zu 5.000 Kronen zubereitet wird? Ihre Wohnung vor dem Brand: ein mit viel Liebe zum Detail eingerichteter „Schöner-Wohnen“-Traum mit Möbeln und Bildern wie aus einem Einrichtungsmagazin. Aber muss es immer der erlesene Geschmack im höheren Preissegment sein, damit man sich im eigenen Zuhause wohlfühlt?

Ich wollte so leben wie andere, obwohl ich nicht wie andere bin.

 

„Ich wollte so leben wie andere, obwohl ich nicht wie andere bin. Ich wollte so wohnen, wie man heute eben wohnt, mit ästhetischen Designermöbeln und dem ganzen Drum und Dran, obwohl ich eher ein ,Weniger-ist-mehr‘-Mensch bin und mein Glück nicht davon abhängt, ob ich etwas habe oder nicht. Ich war mir selbst untreu geworden, und ich wusste das. Ich fand in den materiellen Dingen keine Erfüllung und verlor mein wahres Ich immer mehr aus den Augen. Aber ich wusste nicht: Wie kann ich mich allein durch die Kraft der Gedanken dort hinbewegen, wo ich eigentlich sein möchte?“

Auf einmal ist nichts mehr da

Sie sei ein Organisationstalent, habe immer viel für andere mitgedacht und mitgeplant – für ihre drei Kinder ebenso wie für die Menschen, die ihre Hilfe benötigten und sie rund um die Uhr hätten anrufen können. Sie habe schon immer den Wunsch und das dringende Bedürfnis gehabt, für andere da zu sein, ihnen zu helfen, ihnen Wege aus der Krise aufzuzeigen.

Sie habe anderen mit ihrer besonderen Begabung – der Klarsichtigkeit – dienen wollen, ja, dienen.

„Als Pädagogin und Lebensberaterin sah ich es als Teil meiner Aufgabe an, die Probleme und Sorgen anderer Menschen, die um meinen Rat baten, mitzutragen. Ich wollte sie von ihrem seelischen Schmerz befreien, sie auf eine andere Bewusstseinsebene heben, von der aus sie in der Lage sein würden, mit ihrer Situation besser umzugehen. Meine Menschenliebe war und ist so groß, dass ich gern die Verantwortung für das Leben anderer übernommen habe, jedenfalls zu großen Teilen. Ich wusste, ich kann das, ich bin stark genug. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich es mit meinem Helfereifer übertreibe. Ich wusste, dass sich auch hier etwas ändern muss.“

Dann der Brand, so kurz nach dem Einzug. Auf einmal ist alles anders. Oder besser: Auf einmal ist nichts, oder nur verschwindend wenig, vom alten Leben noch da. Aus der Traum vom schönen Wohnen. Das Buch mit dem großen blauen Schmetterling übersteht auf wundersame Weise das Feuer, wird wie durch Zauberhand vom Küchentisch durch den Raum getragen und ihr direkt vor die Füße gelegt.

Wie innerlich verharzt muss man sein, um darin nicht eine Botschaft zu erkennen?

Gitte Frydensbjerg verlor im Mai bei einem Brand fast ihr gesamtes Hab und Gut. Foto: Karin Riggelsen

„Wäre der Schmetterling nicht da gewesen, oder hätte der Brand Menschenopfer gefordert – die Situation wäre natürlich eine völlig andere gewesen. Es kamen aber keine Menschen zu Schaden, und der Schmetterling war ja da – alle haben ihn gesehen. Ich wusste: Das hier ist ein Zeichen. Ich wusste es einfach.“

Der Schock über das Geschehene bleibt aus, auch in den Tagen und Wochen danach. Während Freunde und Verwandte die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und um wohlgesetzte Worte des Bedauerns und des Trostes ringen, bleibt Gitte gelassen. Irgendwann, im Prozess des inneren Sortierens, setzt ein Gefühl bei ihr ein, das in einem „Ich-habe-gerade-alles-verloren“-Szenario eigentlich so gar nichts zu suchen hat: Dankbarkeit.

 

Der Brand hat mich auf sehr einschneidende Art und Weise daran erinnert, dass die materiellen Dinge im Grunde bedeutungslos sind.

„Es klingt vielleicht abwegig, aber ja – im Rückblick kann ich sagen, dass der Brand ein großes Geschenk war. Denn mit ihm habe ich nicht nur alles verloren, sondern auch alles gewonnen, in erster Linie die Möglichkeit, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Darin liegt eine große, fast überwältigende Freiheit. Dieser Neuanfang fordert mich dazu auf, mich auf meine wahren Werte als Mensch zu besinnen und nur das für die Zukunft mitzunehmen, was wirklich zählt. Wie wichtig es ist, ganz bei sich zu sein und zu bleiben, sich nicht vom Mainstream leiten zu lassen, sondern in seinem authentischen Selbst zu ruhen, das weiß ich heute besser als je zuvor. Der Brand hat mich auf sehr einschneidende Art und Weise daran erinnert, dass die materiellen Dinge im Grunde bedeutungslos sind. Die kann man bis auf wenige Ausnahmen ersetzen. Die eigene Persönlichkeit, die Art, wie wir mit anderen und uns selbst umgehen, ist dagegen einzigartig und unersetzbar und mit Geld nicht aufzuwiegen.“

Nichts geschieht einfach so

Sie möchte in Zukunft asketischer leben. Nein, nicht wie ein Mönch, aber mit weniger Sachen eben. Und statt zu viel Verantwortung für die Lebensprozesse anderer zu übernehmen, möchte sie in erster Linie eine Inspiration sein, wie man schicksalhaften und dramatischen Ereignissen etwas Positives und sogar Wegweisendes abgewinnen kann.

Denn nichts geschieht einfach so. Dahinter verbergen sich oft ein fehlendes Puzzleteil, ein Wink von oben oder der Grundstein für eine sehnlichst herbeigewünschte Veränderung.

Auf Vennelyst erinnern seit Monaten die geschwärzten Außenmauern, die zerborstenen Fenster und das verkohlte Balkenwerk an die dramatischen Ereignisse vom 6. Mai und an einen Traum, der nicht ausgelebt werden wollte. In einem Haus in Sandskär, das sechste Übergangsquartier von Gitte und ihrem Sohn seit dem Verlust der eigenen vier Wände, geht das Leben weiter – sortierter, aufgeräumter und klarsichtiger denn je.

Der wiedergeborene Schmetterling bereitet sich auf seinen ersten Flug vor.

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Leitartikel

Anna-Lena Holm
Anna-Lena Holm Hauptredaktion
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