Dokumentarfilm

Von Menschen entlang des Wildschweinzaunes

Von Menschen entlang des Wildschweinzaunes

Von Menschen entlang des Wildschweinzaunes

Nordschleswig
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Ruth Larsen erinnert sich an ihre Kindheit, in der sie stets auf deutscher Seite begann, den Hügel mit ihrem Schlitten hinabzufahren und dann auf dänischer Seite zum Stillstand kam. Foto: Talib Rasmussen/Flensborg Avis

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In einem Dokumentarfilm wirft Regisseur Jens Loftager ein Licht auf die Schicksale verschiedener Menschen, die tagtäglich auf die eine oder andere Art und Weise mit dem Wildschweinzaun entlang der dänisch-deutschen Grenze in Berührung kommen. Und stellt die Frage, was die Sichtbarmachung der Grenze für die Anwohnerinnen und Anwohner bedeutet.

Eine Grenze zwischen zwei Nationen übt auf manch einen die Faszination des Unbekannten, Neuen oder Anderen aus. Bei anderen führt sie eher zu tragischen Gefühlen oder Irritationsmomenten.

Neben den Grenzkontrollen, die Dänemark seit 2016 wieder an der deutsch-dänischen Grenze durchführt, hat vor allem der 2019 fertiggestellte Wildschweinzaun die Grenze wieder sichtbar gemacht. Insbesondere für all diejenigen, die in unmittelbarer Nähe zur Grenze wohnen und ihren Alltag leben.

Einige von ihnen kommen im Dokumentarfilm „Os på grænsen“ von Jens Loftager zu Wort. In 43 Minuten stellt der Film Menschen und ihre Schicksale vor, die auf ganz unterschiedliche Weise durch den Zaun und die Grenze berührt werden.

„Os på grænsen“

Dokumentarfilm, 76 Minuten
Regisseur Jens Loftager
Produktionsjahr 2021

Der Film kann in einer gekürzten Fassung auf „TV2 Play“ gestreamt werden.

Wohnhaus auf dänischer, Scheune auf deutscher Seite

Da ist Henrik Hansen, dessen Wohnhaus auf dänischer Seite steht, während seine Scheune zu Deutschland gehört. Zwar ist die Zufahrt zu seinem Anwesen Vilmkjærgård sowohl von dänischer als auch von deutscher Seite möglich, doch während der Grenzschließungen aufgrund des Coronavirus musste er stets eine Absperrung aufschließen, um überhaupt zu seinem Anwesen gelangen zu können.

In Thorsten Westphals Garten hat sich einer der Metallpfähle des Wildscheinzauns ohne Rücksichtnahme durch das Grab gebohrt, in dem er seinen Hund begraben hat.

In einer anderen Szene treffen sich der Schweinebauer Jakob Jørgensen und sein deutscher Nachbar Thomas auf ihren Quads, der eine aus Norden, der andere aus Süden kommend. Sie kennen sich bereits seit ihrer Schulzeit und sprechen darüber, dass man nicht einfach einen Zaun aufstelle, ohne vorher seine Nachbarin oder seinen Nachbarn zu fragen.

Der Schweinebauer Jakob Jørgensen und sein deutscher Nachbar Thomas treffen sich am Wildschweinzaun. Foto: Talib Rasmussen/Flensborg Avis

Für Ruth Larsen aus Pattburg (Padborg) hat der Wildschweinzaun ihren Hang durchtrennt, auf dem sie als Kind Schlitten gefahren ist. Gestartet auf deutscher Seite ging es damals ungehindert den kleinen Hügel hinab in Richtung Dänemark.

Der Regisseur lässt seine Protagonisten die Frage in den Raum werfen, was eine Grenze bedeutet, und was es heißt, eine Bewohnerin oder ein Bewohner des unmittelbaren Grenzlandes zu sein.

Vergangenheit und Gegenwart

Und darin liegt auch der besondere Kniff des Films. Er verknüpft die Vergangenheit mit der Gegenwart und führt einen somit zurück in eine Zeit, in der die Grenze besonders sichtbar war, lange bevor mit der Schengen-Vereinbarung der ungehinderte Grenzverkehr, an der deutsch-dänischen Grenze zumindest für einige Jahre, Realität wurde.

Gezeigt etwa wird eine Szene, in der sich die Vorfahren von Henrik Hansen zum grenzüberschreitenden Kaffeetrinken um einen Tisch versammelten, dessen eine Hälfte auf deutscher und die andere Hälfte auf dänischer Seite steht. Sein Großvater hatte einen Bruder, der auf der deutschen Seite wohnte und nicht in das Wohnhaus seines Bruders auf dänischer Seite kommen durfte. Aber so konnte jeder auf seiner Seite der Grenze um den Tisch versammelt sitzen. Das war lange bevor dort ein Wildschweinzaun seine Spuren hinterlassen hat.

Wer sind wir als Europäerinnen und Europäer

Als dieser dann 2019 errichtet wurde, stellte sich der Regisseur die Frage, wer wir als Europäerinnen und Europäer seien und welche Bedeutung eine Grenze einnehme, so Loftager gegenüber „Flensborg Avis“. Bereits zuvor hatte der Brexit Jens Loftager dazu bewogen, einen Film über eine europäische Grenze machen zu wollen.

Und die Antworten seiner Protagonistinnen und Protagonisten verdeutlichen die Widersprüche, die mit einer Grenze verbunden sind. Sie vermitteln überzeugend ihre Liebe zu der Gegend und zur Natur. Es sind die Landschaft und die Menschen, die etwas bedeuten, nicht die Frage, zu welchem Land man sich mehr zugehörig fühlt.

Thorsten Westphal will nicht einfach akzeptieren, dass einer der Metallpfähle des Wildschweinzaunes sich durch das Grab seines Hundes gebohrt hat. Foto: Talib Rasmussen/Flensborg Avis

Fließende Identitäten

Dass die Mentalität der Menschen im Grenzland das Nationale eher in den Hintergrund drängt und das Dänische und das Deutsche viel stärker ineinander verschwimmt, als das beim Rest der Bevölkerung sowohl nördlich als auch südlich der Grenze der Fall ist, stellt für Jens Loftager eine der Besonderheiten dieser Gegend dar.

Er hoffe deshalb auch, dass sein Film die Menschen neugierig auf die Bedeutung von Heimat machen kann.

„Denn das Banale und Alltägliche sind es, die den großen Fragen über nationale versus europäische Identität Ausdruck verleihen. Im Grenzland sind lokale Verankerung und gleichzeitig der Blick in die Welt hinaus kein Gegensatz. Oder ein Teil der Welt zu sein. Daraus sollten wir etwas lernen – oder zumindest darüber nachdenken“, meint Jens Loftager.

Geografische Nähe entscheidend

Und eines bringt der Film noch zum Ausdruck, nämlich dass die Bedeutung einer Grenze aus der Ferne ganz anders wahrgenommen wird als vor Ort. Exemplarisch dafür steht der Beschluss zum Bau des Wildschweinzaunes, der im Folketing in Kopenhagen getroffen wurde, fernab der Grenze, die für die meisten der 179 Abgeordneten weit weg liegt.

Menschen, die weit entfernt von einer Grenze leben, würden diese als etwas ziemlich Absolutes betrachten, nach dem Motto „entweder ist man in Dänemark – oder in Deutschland“. Ein Überqueren der Grenze sei mit Erwartungen und Spannung auf das Fremde verbunden, so der Regisseur gegenüber „Flensburg Avis“.

Ganz anders sei dies jedoch für Menschen, die in unmittelbarer Nähe einer Grenze ihr Leben führen. Sie würden das Fremde auf der anderen Seite als einen Teil vom Alltag empfinden, als einen Teil von sich selbst, meint Jens Loftager. Und als Bereicherung, solange die Grenze nicht zu praktischen Hindernissen im Alltag führe.

Ein Zaun mit zahlreichen Konsequenzen

Doch der Wildschweinzaun sei genau das: nicht nur ein physisches Hindernis, sondern auch ein mentales. Und deswegen würde der Zaun nicht nur Wildschweine, sondern auch Menschen trennen.

„Man kann keinen Zaun aufstellen, der einzig und allein dem Kampf gegen die Schweinepest dient. Ein Zaun führt zahlreiche andere, oftmals unbeabsichtigte Konsequenzen nach sich“, so Jens Loftager.

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