Leitartikel

„Stillschweigende Trennung“

Stillschweigende Trennung

Stillschweigende Trennung

Nordschleswig/Apenrade
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Nicht nur die Regierung hat Nordschleswig vergessen. Der Landesteil selbst hat die Trennung des deutsch-dänischen Grenzlandes in den vergangenen Monaten stillschweigend hingenommen, meint Chefredakteur Gwyn Nissen.

Das deutsch-dänische Grenzland kehrt ab Sonnabend höchstwahrscheinlich zurück zu einer gewissen Normalität. Dann nämlich, wenn das Bundesland Schleswig-Holstein vom dänischen Außenministerium als „gelbes Land" eingestuft wird – das heißt mit einer Inzidenz unter 50 und somit für die Bürgerinnen und Bürger Dänemarks offen.

Für einige bedeutet dies ein neuer Vorrat an Dosenbier, Rotwein im Karton und kiloweise Schokolade, doch für viele andere wiederum die Möglichkeit, Verwandte und Freunde zu besuchen, an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen oder einfach wieder einen Ausflug über die Grenze zu machen.

In die Freude darüber, dass das Grenzland wieder zusammenwächst – seit Freitag vergangener Woche können auch wieder Schleswig-Holsteiner(innen) nach Dänemark – mischt sich aber auch Frust darüber, dass es beim Grenzübertritt weiterhin Barrieren gibt.

Zum einen benötigt man einen Corona-Test, um nach Schleswig-Holstein einzureisen, und nach der Rückkehr nach Dänemark muss man sich ebenfalls testen lassen. Hinzu kommt, dass die Grenze jederzeit wieder geschlossen werden kann. Dann nämlich, wenn die Corona-Situation aus irgendeinem Grund außer Kontrolle geraten sollte. Steigt die Inzidenz in Schleswig-Holstein wieder über 60, geht der Schlagbaum für viele Nordschleswiger wieder runter.

Das deutsch-dänische Grenzland hat während der Corona-Pandemie nicht wirklich eine Sonder-Regelung bekommen – außer dass Schleswig-Holstein nun bei der Einschätzung der Corona-Lage unabhängig von Deutschland isoliert betrachtet wird und dass es einige wenige triftige Gründe für den Grenzübertritt gibt.

Für die große Mehrheit (und unsere Minderheit) in Nordschleswig war Deutschland fast ein halbes Jahr geschlossen. Schlimm ist, dass das Grenzland diese Situation inzwischen stillschweigend akzeptiert hat. Wir haben aufgegeben, weil die Regierung in dieser Frage nicht zu bewegen war, und die Zusammenhänge einer Grenzregion bis heute einfach nicht verstanden hat.

In den vergangenen Wochen gab es keinen Aufstand von Politikern, Bürgermeistern, Minderheiten oder in der Mehrheit in Nordschleswig. In der Zwischenzeit konnte man von Dänemark aus nach Kreta, Mallorca oder Portugal fliegen – aber nicht nach Flensburg oder Leck fahren, wo die Inzidenzen in jüngster Zeit geringer waren als in den meisten dänischen Kommunen.

Die Regierung hat wieder einmal das Grenzland vergessen und einfach im Stich gelassen.

Aber wir haben im Grenzland auch selber vergessen, Lärm zu machen. Zwar aus Resignation, aber wenn das Grenzland am Sonnabend wieder zusammenschmilzt, müssen wir es schaffen, diesmal einen Fuß in die Tür zu bekommen. Ein drittes Mal darf die Tür nicht zugeschlagen werden – zumindest nicht ohne ganz viel Lärm.

Nun heißt es aber erst wieder einmal, Grenzland leben und erleben – es sei denn, die Regierung hat eine ganz andere Tagesordnung für die Grenzschließung. Der Verdacht ist ja nicht unbegründet.

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