VOICES - Minderheiten weltweit

„Indien überflügelt China - doch wer sind die Adivasi?“

Indien überflügelt China - doch wer sind die Adivasi?

Indien überflügelt China - doch wer sind die Adivasi?

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Neu-Delhi
Zuletzt aktualisiert um:

Diesen Artikel vorlesen lassen.

In Indien leben mehr als 1,4 Milliarden Menschen. Bei einer Bevölkerung dieses Ausmaßes kann nicht von dem Inder oder der Inderin gesprochen werden, schreibt Jan Diedrichsen in seiner aktuellen Kolumne und erklärt auch, warum. Und wer eigentlich die Adivasi sind, die schon dort gelebt haben, lange bevor es einen indischen Hindu-Staat gab.

Die Meldung sorgte für Aufregung: Indien hat China den Rang als das bevölkerungsreichste Land der Erde abgelaufen. In Indien leben 1.425.775.850 Menschen, so die etwas übergenau anmutende Meldung aus Delhi. Blicken wir mit europäischer oder gar dänischer Brille auf Indien oder China, begehen wir oft einen grundlegenden Fehler.

Es gibt nicht „die Inderin“ oder „den Chinesen“, weder sprachlich noch kulturell sind diese beiden Staaten homogene Konstrukte. Anders als Dänemark, das als homogener Nationalstaat gelten darf (sieht man von der kleinen deutschen Minderheit sowie den kolonialen Relikten Grönland und Färöer ab), ist Indien ein Vielvölkerstaat par excellence.

Das Konzept des homogenen Nationalstaates ist eine europäische Eigenheit, die erst nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg als bevorzugte Organisationsform der Staatlichkeit gewählt wurde – und dabei viel von der europäischen Vor-Kriegsvielfalt zerstört hat.

Vielfalt innerhalb einer Landesgrenze

Aber wenden wir unseren Blick wieder der vermeintlich größten Demokratie (ob Indien eine Demokratie ist, ist ein anderes Thema) der Erde zu. Hinter den 1,425 Milliarden Menschen verbergen sich zahlreiche Kulturen, Sprachen, Völker. In Indien werden über 1.600 (!) verschiedene Sprachen und Dialekte gesprochen, von denen 22 als Amtssprachen anerkannt sind. Die meisten dieser Sprachen gehören zu vier Hauptfamilien: Indo-Arisch, Dravidisch, Tibeto-Birmanisch und Austroasiatisch.

Die größte und am weitesten verbreitete Sprache in Indien ist Hindi, das etwa 41 Prozent der Bevölkerung als Muttersprache sprechen. Weitere wichtige Sprachen sind Bengali, Telugu, Marathi, Tamil, Urdu und Gujarati. Englisch wird auch von vielen Menschen in Indien als Zweit- oder Drittsprache gesprochen und ist eine wichtige Sprache für Handel, Bildung und Verwaltung.

Adivasi – indigene Völker in Indien

Doch in diesem Artikel wollen wir vor allem auf die indigene Bevölkerung Indiens blicken, die große Gruppe der Adivasi. Die Adivasi sind eine ethnische und kulturelle Minderheit in Indien, die aus verschiedenen indigenen Völkern besteht. Das Wort „Adivasi“ stammt aus dem Sanskrit und bedeutet „Ureinwohner“ oder „Erste Menschen“. Sie machen etwa 8 Prozent der indischen Bevölkerung aus und sind in verschiedenen Teilen des Landes zu finden, hauptsächlich in den zentralen, östlichen und nordöstlichen Bundesstaaten.

Einige der größten Adivasi-Gemeinschaften sind Gond, Santal, Bhil, Munda und Khasi. Die Adivasi-Gemeinschaften haben eine reiche kulturelle Geschichte. Viele ihrer Bräuche und Traditionen sind eng mit der Natur und dem Land verbunden, auf dem sie leben.

Prekäre Situation der Adivasi

Die Adivasi haben im Laufe der Geschichte in Indien unter Verfolgung, Diskriminierung und Marginalisierung gelitten und tun dies bis heute. Eine der Hauptursachen für die Diskriminierung der indigenen Bevölkerung Indiens ist ihre kulturelle Eigenständigkeit, die von vielen – nicht zuletzt von den radikalen Hindu-Anhängern des regierenden Premiers Modi – als Andersartigkeit gesehen wird, die es zu bekämpfen gilt.

Viele Adivasi leben in abgelegenen Gebieten, die oft von Armut und mangelndem Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und anderen öffentlichen Dienstleistungen geprägt sind. Die Regierung versäumt es sträflich, diese Gemeinschaften angemessen zu unterstützen und zu fördern.

Enteignung ohne Entschädigung

Landkonflikte sind ein weiterer wichtiger Faktor bei der Diskriminierung der indigenen Bevölkerung Indiens. Viele Adivasi-Gemeinschaften leben auf Land, das von der Regierung als staatliches Eigentum betrachtet wird, obwohl es historisch gesehen ihr eigenes Land war. In vielen Fällen wurden sie gezwungen, ihr Land aufgrund von Entwicklungsprojekten wie Staudämmen, Minen und Straßenbau abzugeben, ohne entschädigt zu werden.

Hier ein Porträt des in indischer Haft verstorbenen Pastor Stan Swamy:

Zu jedem indigenen Volk Indiens ließe sich „die Welt“ berichten. Wer also wieder einmal von „den 1,425 Milliarden Inderinnen und Indern“ liest, sollte sich unbedingt gemerkt haben, dass in diesem Land über 1.600 verschiedene Sprachen gesprochen werden, und dass die Adivasi schon da waren, bevor es den indischen Hindu-Staat gab.

Zur Person: Jan Diedrichsen

Jan Diedrichsen (Jahrgang 1975), wohnhaft in Berlin und Brüssel, leitet die Vertretung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Brüssel, hat sein Volontariat beim „Nordschleswiger“ absolviert und war als Journalist tätig. 13 Jahre lang leitete er das Sekretariat der deutschen Minderheit in Kopenhagen und war Direktor der FUEN in Flensburg. Ehrenamtlich engagiert er sich bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) – davon bis 2021 vier Jahre als Bundesvorsitzender. Seit Juni 2021 betreibt er gemeinsam mit Wolfgang Mayr, Tjan Zaotschnaja und Claus Biegert ehrenamtlich den Blog VOICES.

Mehr lesen

Leserbrief

Meinung
Kristian Pihl Lorentzen
„Hærvejsmotorvejen som grøn energi- og transportkorridor“

Leserbrief

Meinung
Asger Christensen
„På tide med et EU-forbud mod afbrænding af tøj“