Leitartikel

„Was! Bist du hetero?“

Was! Bist du hetero?

Was! Bist du hetero?

Nordschleswig/Kopenhagen
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Ein kritischer Blick auf das eigene Repertoire an Schimpfwörtern kann Stigmatisierungen vorbeugen, meint Nils Baum.

Auch anno 2020 trauen sich viele Transsexuelle nicht, die Kleidung zu tragen, die ihre Identität am besten widerspiegelt, und Schwule und Lesben schweigen oftmals lieber, wenn sie gefragt werden, mit wem sie zuletzt ein Date hatten. Viele Schülerinnen und Schüler verheimlichen noch immer ihre sexuelle Orientierung vor ihren Klassenkameraden, und am Arbeitsplatz fürchtet so mancher befremdliche Blicke von Kollegen, wenn eine von der Mehrheit abweichende sexuelle Orientierung bekannt wird.

Deshalb haben Demonstrationen für die Rechte sexueller Minderheiten auch hierzulande noch immer ihre Berechtigung, obwohl selbst viele aus der LGBT+ Community (eine aus dem Englischen stammende Abkürzung für Lesben, Schwule – „Gay“, Bisexuelle und Transgender) die starke Kommerzialisierung der Pride-Events der vergangenen Jahre beklagen.

Wenn in dieser Woche erneut die Pride-Week in Kopenhagen stattfindet, wird sie ohne Straßenparade auskommen müssen. In Zeiten der Corona-Krise bedient sich die Community neuester Techniken, um möglichst viele Menschen virtuell zu erreichen und einzubinden.

Doch eine Parade als buntes Fest und Zurschaustellung von Andersartigkeit, ob auf der Straße oder virtuell, kann kaum mehr als gesellschaftliche Aufmerksamkeit herbeiführen. Allein dadurch wird die Toleranz der Mehrheitsgesellschaft gegenüber LGBT+ Personen nicht größer werden. Vorurteile und Ablehnung basieren schließlich zumeist auf Unwissenheit.

Aus diesem Grunde ist die im Zweifelsfalle eher mühselige Aufklärungsarbeit vor Ort auch so wichtig. In dieser Woche schaute die Organisation „Sex og Samfund“ mit einem Feuerwehrauto bei einer Reihe von Ausbildungsinstitutionen vorbei. Auf diese Weise soll den dortigen Schülerinnen und Schülern die noch immer vorherrschende Homo- und Transphobie bewusst gemacht werden, die viele LGBT+ Jugendliche während ihrer Ausbildung erleben.

Unter dem Motto „#KillYourNorms“ möchte die Organisation vor allem unseren Sprachgebrauch sensibilisieren. Denn noch immer nutzen wir eine ganze Reihe von Ausdrücken, bei denen die andersartige sexuelle Orientierung zum Schimpfwort gerät. „Schwuchtel“, „Betonlesbe“ oder „Das ist voll schwul, Alter“ sind nicht nur unter Jugendlichen Teil des gängigen Wortschatzes. Auf der Internetseite von „Sex og Samfund“ kann jeder selber den Test machen und prüfen, ob man sich möglicherweise ganz unbewusst einer Sprache bedient, die andere stigmatisiert.

Viele LGBT+ Personen leiden darunter, wenn so über sie gesprochen wird. Und während die meisten von uns glauben, dass es in Dänemark keine Vorurteile mehr gegen LGBT+ Personen gibt, tragen wir doch jedes Mal, wenn uns etwas missfällt und wir dieses Missfallen zum Beispiel mit den Worten „Das ist voll schwul!“ zum Ausdruck bringen, zu genau diesen Vorurteilen bei.

Dies führt dazu, dass LGBT+ Personen in ihrer Jugend und später im Erwachsenenleben oftmals ein weniger stark ausgeprägtes Selbstwertgefühl haben, sich einsam fühlen oder doppelt so oft Selbstmordgedanken ausgesetzt sind als heterosexuelle Jugendliche.

Niemand sollte sich verpflichtet fühlen, „Hurra!“ zu rufen, wenn jemand sagt, er oder sie sei schwul oder lesbisch. Dennoch tut ein jeder gut daran, sich bewusst zu machen, dass es immer auch noch eine andere Sichtweise, eine zweite, dritte und vierte Perspektive auf die Dinge dieser Welt gibt.

Die Copenhagen Pride Week ist deshalb noch immer ein willkommener Anlass, um der Mehrheit einen Spiegel vorzuhalten, um zu signalisieren „Hey, ich bin anders als du, und deine Sichtweise auf die Welt ist nicht gleich mit meiner!“ Dies ist ein weiterer Schritt hin zu mehr gegenseitigem Verständnis und hoffentlich zu mehr Toleranz – und weniger Stigmatisierung.

Ein kritischer Blick auf das eigene Repertoire an Schimpfwörtern kann da ein Anfang sein. Denn man stelle sich einmal vor, wie es wäre, würde jemand „Heteroschwein!“ rufen oder überrascht fragen „Was! Bist du hetero?"

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Cornelius von Tiedemann
Cornelius von Tiedemann Stellv. Chefredakteur
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