Leitartikel

„No Notting Hill Nordschleswig“

No Notting Hill Nordschleswig

No Notting Hill Nordschleswig

Nordschleswig
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Wann wird Tourismus eigentlich unangenehm? Sonderburg ist nicht Venedig, aber muss man auch in Nordschleswig aufpassen, dass nicht zu viele Urlauber zu Besuch kommen? Sara Wasmund findet: Wer mit Ruhe und Einzigartigkeit wirbt, muss das auch liefern.

Nein, Sonderburg ist nicht Venedig und der Haderslebener Damm nicht der Ärmelkanal. Und das ist auch gut so. Touristen kommen schließlich nach Nordschleswig, um sich zu erholen, um die Natur zu genießen, Grenzlandgeschichte zu erfahren und gut zu essen. Und nicht, um sich innerhalb von Menschenscharen durch pittoreske Gassen zu quetschen, die man vor lauter Menschenmassen gar nicht mehr sehen und erleben kann.

Die ins Meer wachsenden Wälder, die Sandstrände entlang der vielen kleinen Meeresarme, das Wattenmeer an der Westküste, aber auch die lustigen bunten Häuser in den süßen kleinen Innenstädten mit ihren duftenden Stockrosen vor der Farbenwand mit den Sprossenfenstern stehen dafür, was Nordschleswig ausmacht: echte und vor allem unverbrauchte Schönheit.
Bislang ist es erklärtes Ziel der regionalen Tourismusgesellschaften, so viele Touristen wie irgend möglich anzuziehen. In Zukunft sollte der Gedanke mit in die Planungen einfließen, wie viele Touristen denn eigentlich erwünscht sind – und wann und wo die Region an ihre Grenze stößt.

Am Dienstag meldete der dänische Rat für Landdistrikte, Landdistrikternes Fællesråd, dass die dänischen Inseln einen Touristenboom erleben. Der vor drei Jahren eingeführte Insel-Pass vermarktet 38 Inseln, er bietet unter anderem einen digitalen Führer über Kultur und Natur der Inseln, und die Gäste können in ihrem Pass sogenannte Insel-Marken sammeln, was sich zu einem Renner entwickelt hat. Auch die nordschleswigsche Insel Alsen ist Teil des Inselpasses.

Mehr Touristen bedeuten mehr Umsatz in Geschäften und Restaurants, jubelte der Vorsitzende des Rats in einer Pressemitteilung, der Inselpass trage Früchte. Jedoch zeigten sich erste Kapazitätsprobleme, um die Menge der Gäste transportieren zu können, möglicherweise seien mehrere Überfahrten oder größere Fähren nötig. Den kleinen strukturschwachen Landgebieten seien der steigende Umsatz und die steigenden Menschenmengen gegönnt.

Wir mögen noch weit entfernt davon sein, in Nordschleswig an eine touristische Obergrenze zu stoßen. Aber wer einmal erlebt hat, wie überlaufen und zugebaut die Costa Brava in Spanien ist, wie totgetrampelt der Charme Venedigs ist und dass es einfach mega nervig ist, auf einer Aussichtsplattform anstehen zu müssen, um die Natur zu bestaunen, der weiß, dass man lieber vorher darüber nachdenken sollte als nachher, wenn es zu spät ist.

Nordschleswigs touristische Anziehungskraft nimmt derzeit enorm zu.

Am Hotel Alsik in Sonderburg stehen die Besucher lange Schlange, um für eine halbe Stunde auf die Aussichtsplattform im 16. Stock zu kommen, und auf der Insel Röm erinnert die Menge der Autos am Strand vor Lakolk schon jetzt eher an Autobahn denn an Naturstrand.

Mit der Tour-de-France-Etappe, die 2021 durch Nordschleswig rollt und von Milliarden Menschen gesehen werden wird, mit dem Bau einer XXL-Ferienanlage auf Nordalsen und durch den schlichten Effekt, dass die Touristen ihre schönen Fotos auf Instagram in alle Welt verbreiten, wird der Strom der Touristen in den kommenden Jahren stark ansteigen.

Man muss deswegen nicht in Panik verfallen, sicher nicht. Aber wie schade wäre es, wenn man irgendwann vor lauter Touristen die Ruhe und Abgeschiedenheit der kleinen Sandstrände nicht mehr genießen kann, und wenn die Einwohner der kleinen Stadthäuser die Krise kriegen, weil andauernd ein Social-Media-Macher ein Selfie vor der Haustür neben dem Rosenstock schießt. Im Londoner Stadtteil Notting Hill haben Anwohner deswegen bereits ihr Haus aufgegeben, weil die Scharen an „Influencern“ nicht mehr auszuhalten waren bzw. sind. Ich verstehe das. Kein Mensch will abends von der Arbeit nach Hause kommen und mit einem „Entschuldigen-Sie-bitte-ich-wohne-hier“ erst mal ein Amateur-Model vom Treppenabsatz schieben müssen.

Wer mit Natur, Ruhe und Einzigartigkeit wirbt, muss das auch bieten. Ansonsten wird eine Urlaubsregion zu einer reinen Kulisse für Touristen.  Lieber einmal im Jahr ein Kreuzfahrtschiff in Sonderburg mit einem Volksfest am Hafen empfangen, als sich vor Kreuzfahrtgästen nicht mehr retten zu können. Lieber entspannt bummeln auf dem Torvet in Hadersleben als angespannt auf der Via Turati in Pisa. Und wer braucht schon einen schiefen Turm, wenn man Bäume hat, die mit dem Wind wachsen …

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