Leitartikel

„Løkkes Befreiungsschlag “

„Løkkes Befreiungsschlag “

„Løkkes Befreiungsschlag “

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Apenrade/Aabenraa
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Ist eine S-V-Koalition überhaupt realistisch? Nein, jedenfalls nicht zum jetzigen Zeitpunkt, meint Siegfried Matlok.

Seit dem 3. Oktober 1972, als der sozialdemokratische Regierungschef J. O. Krag nach dem erfolgreichen EU-Beitritts-Referendum im Folketing freiwillig seinen Rücktritt bekannt gab, hat es in der dänischen Politik keine so große Überraschung gegeben wie jene, die Venstre-Staatsminister Lars Løkke bei der Präsentation seines  Buches „Momente der Befreiung“ auslöste, als er aus heiterem Himmel eine S-V-Regierung ins Gespräch brachte. Mitten im Wahlkampf und auch mitten ins Herz des bürgerlichen-liberalen Dänemarks! Vor wenigen Tagen sorgte er bereits für Wirbel und Kopfschütteln im eigenen Lager, als er zur Sicherung und Verbesserung des Wohlfahrtsstaates bis 2025 insgesamt 69 Milliarden Kronen versprach.

Nicht nur für Kommentatoren Indiz dafür, dass es zwischen Sozialdemokratie und Venstre in der ökonomischen Politik kaum Unterschiede gibt. Dieses Versprechen war kein Versprecher. Løkke wusste ja längst, dass er kurz danach die S-V-Bombe zünden würde und damit den gesamten Wahlkampf, nicht zuletzt für die eigene Partei, auf den Kopf stellen würde.

Zunächst verdient Løkke hohe Anerkennung, weil er unmissverständlich eine rote Linie gezogen hat: hierher und nicht weiter lautet seine Absage an die neuen rechtsextremen Parteien „Ny Borgerlige“ und „Stram Kurs“, deren mögliche Mandate er nach der Wahl bei einer Regierungsbildung weder berücksichtigen noch mitzählen will. Dann lieber auf eine Wiederwahl verzichten, so Løkke, der gleichzeitig eine Tür – Hintertür oder gar Notausgang? – öffnete, als er angesichts eines nach seiner Ansicht drohenden parlamentarischen Ausnahmezustandes die Buchstaben S-V ins Spiel brachte. Løkke wirbt in Wahlkampf-Anzeigen als Staatsmann, der keine Parteien, sondern nur die Verantwortung für das Land als oberste Richtschnur seines Handelns kennt. Mit anderen Worten: das Land muss regiert werden – auch ohne ihn, denn natürlich ist er sich darüber im Klaren, dass in einer solchen Regierung die Sozialdemokratie als größte Partei den Staatsminister stellen wird.   

Dass Mette Frederiksen ihm angesichts ihres hohen Vorsprungs die kalte Schulter zeigt, war zu erwarten, aber dass bei einer ersten Umfrage 47 Prozent der Wähler eine S-V-Regierung begrüßen würden, beweist:  Løkke hat den Nerv in der Wählerschaft getroffen, die meisten Dänen wollen nicht von den Flügeln her, sondern von der politischen Mitte aus regiert werden.  Zwar hat er unterstrichen, dass er weiterhin als erstes Ziel für eine bürgerlich-liberale Regierung kämpfen will, jedoch einkalkulierend, dass V, K, DF und LA zusammen keine Mehrheit erreichen. Dies wird nach seiner S-V-Steilvorlage auch nicht leichter, denn die Geister, die er rief, wird er nicht mehr loswerden, weil ihn der S-V-Schatten nun auf Schritt und Tritt verfolgen wird.

Ist eine S-V-Koalition überhaupt realistisch? Nein, jedenfalls nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Viele erinnern ohne Freude an das Scheitern der Arbeiter-und Bauern-Regierung unter Leitung von Anker Jørgensen,  die nur von August 1978 bis Oktober 1979 zusammenhielt. Fairerweise muss man darauf hinweisen, dass die damaligen Verhältnisse nicht mit der heutigen innen-und außenpolitischen Situation vergleichbar sind, schon gar nicht mit den Besatzungsjahren, wo beide Parteien auch gemeinsam in der Regierung waren. Die S-V-Unterschiede sind heute in vielen Politikbereichen fast unüberwindbar, gewiss ein höheres Hindernis als etwaige Personenfragen. Stratege Løkke, der wie ein Fuchs immer sieben Ausgänge hat, rechnet nicht mit einer S-V-Regierung nach der Wahl. Er weiß, dass eine solche Regierung im Gegensatz zu 1978 keine Mehrheit haben wird, und deshalb ist auch jeder Vergleich zur deutschen Groko falsch. Sie wäre auf Unterstützung von Radikalen oder DF angewiesen. Mit seiner S-Offerte hat Løkke Sympathien im bürgerlichen Lager eingebüßt, ist jedoch dadurch für die Radikale Venstre wieder interessant geworden. Vielleicht denkt er ja an Poul Schlüter, der einst seine Verbündeten zugunsten der Radikalen in der Frage der Nato-Politik opferte? Løkke spekuliert offenbar, dass eine Minderheits-Regierung von S wie sein eigenes V-Minderheitskabinett frühzeitig scheitern wird. Und dann könnte der Fall X. doch noch eintreten.

Løkke geht mit seiner Doppel-Taktik auch persönlich hohes Risiko. Wenn die jetzt tief schockierten Bürgerlichen am 5. Juni eine schwere Niederlage hinnehmen müssen, wird er als „Totengräber“ in ihre Geschichte eingehen, aber andere bewerten seinen Befreiungsschlag so, dass der heutige Staatsminister auch über staatsmännische Qualitäten verfügt.    

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