Leitartikel

„Grenzland: Hoffnungsschimmer in trüben Zeiten“

Grenzland: Hoffnungsschimmer in trüben Zeiten

Grenzland: Hoffnungsschimmer in trüben Zeiten

Apenrade/Aabenraa
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Fast war die Grenze schon aus dem Bewusstsein zumindest der Sonntagsredner verschwunden – dann baute sie sich mit aller Macht wieder vor uns auf. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, wie sehr sie unseren Alltag bestimmen kann, meint Cornelius von Tiedemann – der Hoffnung hat, dass bessere Zeiten kommen.

Über viele Jahre schien es immer nur voranzugehen beim Zusammenwachsen des deutsch-dänischen Grenzlandes. Schon wurde davon fabuliert, dass die Grenze nicht mehr sichtbar sei und somit auch nicht mehr spürbar sein  sollte. In Nordschleswig wohnen, in Südschleswig arbeiten, hier zum Arzt, dort zum Einkaufen, hier ins Theater, dort mit Freunden eine Radtour machen, als Handwerker beidseits der Grenze arbeiten, als gäbe es sie gar nicht: Die Vision eines gelebten Europas war auf dem besten Wege, Wirklichkeit zu werden.

Dann kam die dänische Reaktion auf die vielen Flüchtenden aus Syrien 2015/16. Plötzlich standen Soldaten an der Straße zwischen Wassersleben und Krusau und wollten den Ausweis sehen.

Und die Regierung Løkke hatte noch mehr vor. Es war allen Ernstes eine Mauer zwischen Nord- und Südschleswig, zwischen Dänemark und Deutschland geplant, Bauteile waren schon bestellt, Unmengen von Stacheldraht, der die Mauerkrone zwischen Nord- und Ostsee zieren sollte, lagern noch Jahre später auf dem Luftwaffen-Gelände in Skrydstrup.

Die Mauer, von der die Öffentlichkeit erst viel später erfährt, wird schließlich nicht gebaut. Dafür erhitzt ein Wildschwein-Zaun die Gemüter vor allem südlich der Grenze.

Und dann kommt Corona. Betonabsperrungen an den kleinen Grenzübergängen. Lange sind die Ein- und Ausreiseregeln schwer verständlich, nicht an die Wirklichkeit im Grenzland angepasst und sie bleiben lange, ob nun notwendig oder nicht, ein Keil zwischen den Menschen, die nördlich und südlich der einst fast unsichtbaren Grenze leben. Verwandte und Freunde können einander nicht sehen oder trauen sich nicht über die Grenze, Lebenspartner müssen schriftlich ihre Liebe dokumentieren und sich an der Grenze damit legitimieren.

Wir als deutschsprachiges Grenzland-Medium haben aus erster Hand zu spüren bekommen, wie verunsichert die Menschen waren. Wie viel Informationsbedarf und Frust es gab – und wie schwer bis unmöglich es auch für uns Journalisten manchmal war, vor allem aus Kopenhagen Antworten auf die Fragen zu bekommen, die die Corona-Krise für die grenzüberschreitend lebenden Menschen noch einmal ganz anders belastend machte als für andere.  

Deshalb und auch zum Beispiel wegen der Posse um den IC-Halt in Schleswig klingt ein Zitat wie das von Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther im ersten Moment wie Hohn, wenn er sagt, dass die grenzüberschreitende Zusammenarbeit inzwischen „ganz normal“ sei – und anfügt: „Wir sehen das beim Corona-Management an der Grenze, …“.

Doch Günther bezieht sich in seinem Zitat auf die Zusammenarbeit zwischen dem Land Schleswig-Holstein und der Region Süddänemark, die kürzlich (wir berichteten) erneut vereinbart wurde – und wo eine neue „Entwicklungsallianz“ Wohlstand, Wachstum und Beschäftigung auf beiden Seiten der Grenze bringen soll. Auch durch Zutun der Minderheiten, deren Bedeutung sowohl Günther als auch Regions-Chefin Stephanie Lose einmal mehr würdigten.

Und tatsächlich: Der Paarlauf zwischen Vejle und Kiel funktioniert, trotz aller Ungereimtheiten wie zum Beispiel der nicht grenzüberschreitenden Strahlentherapie, einigermaßen harmonisch.

Doch was bringt das, wenn auf der Ebene, die letztlich für die Grenze selbst zuständig ist, nur wenig Interesse daran zu bestehen scheint, das Grenzland und Europa tatsächlich zu leben?

Das ist ärgerlich und schade. Doch zugleich macht es Hoffnung, dass es handfeste Absichtserklärungen wie die zwischen Günther und Lose, zwischen Kiel und Vejle und gibt.

Denn sie zeigen, dass es zumindest in der Region selbst Zuversicht und Tatendrang gibt. Aller Ignoranz andernorts zum Trotz.

Und das ist für alle, die eine gelebte Region Nord- und Südschleswig und ein offenes Europa wollen, der stabile Grundstein, auf dem jetzt wieder aufgebaut werden kann.

 

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