Leitartikel

„Geistiger Verfall“

Geistiger Verfall

Geistiger Verfall

Apenrade/Aabenraa
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Cornelius von Tiedemann bedauert den massiven Rückgang der Anzahl von Studierenden in den geisteswissenschaftlichen Fächern in Dänemark. Für die Gesellschaft, wie wir sie kennen, sei diese Entwicklung durchaus gefährlich, schreibt er.

An Dänemarks Hochschulen herrscht Kahlschlag. Seit 2013 hat sich die Zahl derer, die sich für ein geisteswissenschaftliches Studium einschreiben, um 30 Prozent verringert. Bis 2035, so prognostiziert es der Verband Dansk Magisterforening, werden es 51 Prozent sein.

Und das in einer Gesellschaft, die ganz bewusst darauf setzt, dass ihr Kapital in den Köpfen steckt. (Anderswo wäre es der lateinischen Wortherkunft nach auch fehlplatziert, aber dies nur am Rande.)

Dieses Kapital sehen wir heute fast ausschließlich in Disziplinen, die direkt in der ökonomischen Wertschöpfung gewinnbringend angewendet werden können. In den „Realwissenschaften“, Physik und Chemie und diversen Ingenieur-Ausbildungen zum Beispiel auf der einen, der fachlichen Seite – und in den Zwitter-Disziplinen, wie den Wirtschafts- und Politikwissenschaften, auf der anderen Seite. Wir brauchen, meinen wir, einerseits die Fachleute, andererseits die Strategen und Führungskräfte.

Selbst die Sprachwissenschaften sind heute zuvorderst dem Wertschöpfungsgedanken unterworfen. Englisch wird vielfach deshalb (im Nebenfach) studiert, um „verhandlungssicher“ auftreten und global eingesetzt werden zu können.

Auch die deutsche Minderheit argumentiert immer wieder ökonomisch, wenn sie dazu aufruft, dass der Deutschunterricht in Dänemark vor dem Aus bewahrt werden sollte. Der riesige deutsche Markt werde verschenkt, heißt es dann. Und das stimmt und ist unverständlich und bedauernswert, das haben wir als deutschsprachiges Medienhaus in Dänemark auch an dieser Stelle immer, und erst jüngst wieder, festgestellt.

Der eigentliche Skandal aber liegt darin, dass es heute als naiv, ja, verantwortungslos gilt, für Disziplinen einzutreten, die nicht auf ökonomische Effizienz optimiert werden können, wenn ihr Betrieb sinnvoll fortgeführt werden soll, und die ihrerseits keine direkt in der Wertschöpfung einsetzbaren Fachkräfte generieren. Dabei wird die Kraft der Humanwissenschaften völlig unterschätzt.

„Humaniora“ heißen die im engeren Sinne Geisteswissenschaften in Dänemark. Das sind jene humanistischen Studien, die den Menschen und vor allem dessen Sprachkunst im Mittelpunkt sehen, davon ausgehend dann Philosophie, Anthropologie, Geschichte, Kunst, Literatur und so weiter.

Unser Gesellschaftsmodell, die Demokratie, die Freiheit, unser Rechtssystem, das uns schützt vor uns selbst und vor einander, das  Fundament des Teils des Fortschritts, den wir nicht missen wollen, liegt auf dem, was die humanistischen Studien seit den alten Griechen im gleichberechtigten Zusammenspiel mit den Innovationen der Naturwissenschaften erreicht haben.

Warum sollte es also nun plötzlich so erstrebenswert sein, eine Gesellschaft zu entwickeln, in der der Einzelne vorrangig als Werkzeug zur Gewinnmaximierung betrachtet und ausgebildet wird – und nicht als Mensch?

Noch ist die Welt nicht untergegangen. Noch schreiben sich Menschen für Philosophie oder Literaturwissenschaften ein.

Aber wir sollten aufpassen, bei allen Initiativen für mehr „handfeste“, auf ökonomischen Profit ausgelegte Ausbildungen, nicht zu vergessen: Unsere Zivilgesellschaft, sie braucht Menschen, die wissen, wovon sie reden, wenn sie sich für soziale Belange, Kultur oder Gerechtigkeit im weitesten Sinne einsetzen.

Wir brauchen Menschen, die unsere Werte, die unsere Freiheit, die Menschenrechte und menschliche Verantwortung gegen die immerwährenden Angriffe der Geist- und Herzlosen verteidigen können. Wir brauchen Menschen, die Kunst und Kultur schaffen und einordnen, erklären und lehren können. Wir brauchen auch die Auseinandersetzung mit dem Abseitigen, dem Besonderen, dem Seltenen, dem Wertvollen.

Und wir brauchen Menschen, und die sind heute schon schwer genug zu finden, die verstehen, dass kulturelle und sprachliche Minderheiten auch dann von Wert wären, wenn sie keinen direkten ökonomischen Profit brächten.

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