Leitartikel

„‚Deutsch‘ und deutsch“

‚Deutsch‘ und deutsch

‚Deutsch‘ und deutsch

Siegfried Matlok
Siegfried Matlok Senior-Korrespondent
Apenrade/Aabenraa
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Die bevorstehende Wahl von Jørgen Popp Petersen wird in der deutschen Minderheit zu Recht als Zeichen der Gleichwertigkeit gewürdigt, aber die Frage deutsch oder dänisch spielt praktisch keine Rolle mehr. Das war 1980 noch anders, als in Tingleff erstmals nach 1945 ein deutscher Bürgermeister gewählt wurde, meint Siegfried Matlok.

Vor 100 Jahren wählte der Stadtrat von Tondern (Tønder) Oluf Olsen als ersten deutschen Bürgermeister nach der Volksabstimmung und umstrittenen Grenzziehung 1920.  Seine Wahl  im März 1922 war historisch, und die deutsche Liste – damals übrigens Liste C! – hatte mit acht Sitzen die Mehrheit gegenüber sieben dänischen Vertretern. Oluf Olufsen war bereits 1920 Bürgermeister, als Nordschleswig in Dänemark eingegliedert wurde, und er war es auch, der als deutscher Bürgermeister im Juli 1920 im Namen der Stadt Tondern offiziell König Christian X. in Tondern begrüßte. 

100 Jahre später – ab 1. Januar 2022 – wird die Stadt Tondern wieder einen deutschen Bürgermeister wählen, auf Wunsch einer breiten Mehrheit den Vertreter der Schleswigschen Partei, Jørgen Popp Petersen. Der angesehene Aarhus-Redakteur Jørn Mikkelsen, der in Sonderburg geboren ist und der damals selbst erfahren hat, dass deutsche und dänische Kinder nicht miteinander spielen durften, nennt in „Jyllands Posten“ die bevorstehende Wahl von Popp „historisch“ und einen „symbolischen Quantensprung“. 

Das historische Ereignis in Tondern muss aber noch etwas korrigiert werden, denn es gab bereits nach 1945 einen deutschen Bürgermeister in Nordschleswig, nämlich Harald Søndergaard, der am 2. Dezember 1980 im Stadtrat von Tingleff gewählt wurde – nach Stimmengleichheit 8:8 hatte er die Glücksgöttin Fortuna per Los an seiner Seite. „Tysk borgmester i Tinglev“ lautete die Titelseite von „Jydske Tidende”. Und das war damals ein heftig diskutiertes nationales Politikum. 

Der Fraktionsvorsitzende von Venstre in Tingleff, Jørgen Petersen, hatte angesichts der bevorstehenden Wahl, die durch die Erkrankung des sozialdemokratischen Bürgermeisters Frits Nielsen erforderlich wurde, erklärt, dass niemals ein Deutscher Bürgermeister von Tingleff werden dürfe. Der frühere liberale Tingleffer Bürgermeister Svend Christensen widersprach aber seinem Parteifreund nachdrücklich und betonte, „es wäre kein Unglück, wenn ein deutscher Nordschleswiger in Tingleff Bürgermeister werde“. Der BdN-Hauptvorsitzende Gerhard Schmidt warf dem Venstre-Politiker Petersen auf einer Delegiertenversammlung vor, „die Mitglieder der deutschen Volksgruppe zu Bürgern zweiter Klasse degradieren zu wollen“.

Zusätzliche Brisanz erfuhr die Wahl in Tingleff auch, weil der nordschleswigsche Amtsrat am Tage vorher in Apenrade anstelle des erkrankten Amtsbürgermeisters Erik Jessen (Venstre) den Sozialdemokraten Peter Gorrsen zum neuen Amtsbürgermeister gewählt hatte. Der Amtsratsvertreter der Schleswigschen Partei, Hermann Heil, erklärte in der Debatte: „... ich stimme für Peter Gorrsen, und ich hoffe, dass Kommunen, die in eine gleiche Situation kommen,  vom Amtsrat gelernt haben, wie man ein solches Problem löst.“ Also ein Wink mit dem Zaunpfahl Richtung Tingleff, und „Jydske Tidende“ kommentierte unter der Überschrift „To valg“, es könne kein Flecken auf die Wahl von Søndergaard fallen, denn er war, als das Hitler-Reich zusammenbrach, nur vier Jahre, „und dänische Tradition verbietet es, dass Söhne die  Sünden der Väter erben“. 

Aber es gab natürlich dänische Medien – außerhalb Nordschleswigs – die das Thema „tysk borgmester“ emotional anheizten. Ein Kopenhagener Journalist titelte in fetter Schlagzeile: Deutscher Bürgermeister will deutsche Fahne über das Tingleffer Rathaus wehen lassen. Jedoch, er hatte die Wahrheit unterschlagen, denn Søndergaard hatte im Interview auf die Frage, ob er die deutsche Fahne hissen würde, nur gesagt: „Natürlich, wenn der deutsche Bundespräsident Tingleff besucht ebenso wie wir die schwedische Fahne hissen würden, wenn der schwedische König nach Tingleff kommen sollte.“ 

Und 2022? Die bevorstehende Wahl von Popp wird natürlich in der deutschen Minderheit zu Recht auch als Zeichen der Gleichwertigkeit gewürdigt, aber die Frage deutsch oder dänisch spielte praktisch keine Rolle. Wenn man einmal davon absieht, dass eine dänische Regionalzeitung die Bürgermeister-Verhandlungen „mit der nationalsozialistischen Nacht der langen Messer“ verglich, ein Begriff, der übrigens bereits vor dem grausamen Röhm-Putsch 1934 erfunden war. Was sollte diese Anspielung – vor allem im Hinblick auf Popp, denn trotz der Tatsache, dass er die Wahlzahlen der SP verdoppelte, konnte er ja mit vier Mandaten keinen „deutschen Bürgermeister“ beanspruchen.

Wahr ist, dass seine überall bekannte Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit selbst von jenen Parteien, die früher oft eine nationalistische Haltung an den Tag legten, nicht ins Spiel gebracht wurde. Die „deutsche Karte“ wurde gegen Popp überhaupt nicht gezogen – im Gegenteil. Die neuen Mehrheits-Parteien sehen darin, wie so manche dänische Bürger, sogar eine besondere grenzlandpolitische Qualifikation ihrer Stadt, und sie schätzen – bewiesen durch die hohe persönliche Stimmenzahl für Popp – seine fachlichen und menschlichen Qualitäten, die er bereits früher als Vorsitzender des Kulturausschusses demonstriert hat. Und sie können nachts ruhig schlafen, darauf vertrauen, dass Popp natürlich der Bürgermeister aller Bürger in der Kommune sein wird und nicht Sonderinteressen der deutschen Minderheit vertritt. 

Die Frage eines nicht im Grenzland ansässigen TV-Journalisten, ob er denn deutsch oder dänisch sei, beantwortete Popp wie folgt: „Ich bin dänischer Staatsbürger, gehöre zur deutschen Minderheit in Nordschleswig, spreche Sønderjysk und bin vor allem Europäer.“

Mit anderen Worten: Nach 100 Jahren bekommt Tondern ein Gesamtpaket, das einen modernen Grenzlandmenschen von heute auszeichnet und in dem die Konfrontationsfrage deutsch oder dänisch zu kurz gesprungen ist – ungeachtet des eigenen kulturellen Standortes, den man 2022 nicht mehr zu rechtfertigen oder gar zu entschuldigen braucht. 

Dank den Dänen und Popp in Tondern!

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