Diese Woche in Kopenhagen

„Spießroutenlauf von Odense bis zum Brexit“

„Spießroutenlauf von Odense bis zum Brexit“

„Spießroutenlauf von Odense bis zum Brexit“

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Kopenhagen
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Lars Løkke Rasmussen und Theresa May sind dort, wo sie sind – im Zentrum der Macht – weil sie eine ganz besondere Fähigkeit auszeichnet, die man als Spitzenpolitiker in dieser Liga mitbringen muss, meint der Leiter des Kopenhagener Sekretariats der deutschen Minderheit in Dänemark, Jan Diedrichsen.

Ob Lars Løkke Rasmussen an seinen Sommer 2014 gedacht haben mag, als er am Wochenende Theresa May beim EU-Gipfel in Brüssel traf, wird für immer sein Geheimnis bleiben. Doch der im Juni 2014 in Odense kulminierende, leicht an „House-of-Cards-in-der-Provinz“ erinnernde Machtkampf der Partei Venstre, ist zwar weit entfernt von dem Brexit-Drama, das sich derzeit auf europäischer Bühne abspielt, doch es finden sich dennoch interessante Parallelen.

Lars Løkke Rasmussen legte in Odense einen Spießroutenlauf sondergleichen hinter sich. Er kämpfte um seine politische Kariere und stellte sich zahlreichen wütenden Venstre-Vertretern. Die Presse und Politikerkollegen hatten ihn, ob seiner zahlreichen Skandale, bereits abgeschrieben. Er musste Kritik, Angriffe, Anfeindungen in ausgeprägt persönlicher Form über sich ergehen lassen. Nur wenige standen noch zu ihm. Lars Løkke Rasmussen dacht sich insgeheim sicher: warum tue ich mir das an, warum tue ich das meiner Familie an? Er trat jedoch nicht zurück. Er blieb standhaft, agierte intuitiv geschickt, hatte Gegenspieler, die im entscheidenden Moment vor dem finalen Schlag (den sie hätten führen können) zurückschreckten. Und das Ergebnis: Lars Løkke Rasmussen ist immer noch – mehr als vier Jahre später – der mächtigste Politiker des Landes.

Theresa May hat ähnliches hinter und vor sich. Und das schon seit Monaten. Sie verhandelt in Brüssel mit den EU-Chefs, die nicht wissen, was es noch zu verhandeln gäbe, denn einen Vertrag über den Austritt Großbritanniens aus der EU gibt es bereits und an jenem soll nicht mehr gerüttelt werden. Die wie üblich „gut informierten Kreise“ berichten von der jüngsten Sitzung in Brüssel, dass Angela Merkel als inoffizielle Wortführerin der 27 EU-Länder die britische Premierministein mit einem Trommelfeuer von sachlichen Fragen an den Rand des Einbruchs bracht. May konnte einfach keine Antworten liefern, denn sie hat keine.

Doch noch schlimmer für Theresa May ist die heimische Lage. Das parlamentarische System in Großbritannien ist auf „Krawall“ ausgelegt, zumindest auf der sichtbaren Ebene. Wer einmal eine Unterhausdebatte live erlebt hat, der weiß, was ich meine. Theresa May wird angefeindet, ja ist teilweise verhasst. Eine solch gnadenlose Vorgehensweise ist selbst auf der Insel, auf der man die politischen Auseinandersetzungen mit harten Bandagen ausficht, ungewöhnlich. Dass Theresa May jeden Morgen die Kraft findet, aufzustehen, ist eine bemerkenswerte Leistung. Ich kann nicht anders als diese starke Frau – ob sie nun in ihrer Politik Recht hat oder nicht - bewundern. Sie macht immer weiter, sie gibt nie auf. Der Brexit wird höchstwahrscheinlich als einschneidende Katastrophe für Großbritannien in die Geschichtsbücher eingehen. Aber sicher ist dies nicht, denn es ist letztendlich ungeklärt, wie sich das Knäuel an Unlösbarem entwirren wird. Weder für Großbritannien, die EU noch für Theresa May persönlich gibt es zum derzeitigen Zeitpunkt Gewissheit.

Was will ich mit diesem zugegebenermaßen etwas weit hergeholten Vergleich zwischen Løkkes Odense-Erlebnis und Theresa Mays Leidenszeit aussagen? Ganz abgesehen von den sachlichen Fragen, hat Politik immer die menschliche Komponente zu berücksichtigen. Lars Løkke Rasmussen und Theresa May sind dort, wo sie sind – im Zentrum der Macht – weil sie eine ganz besondere Fähigkeit auszeichnet, die man als Spitzenpolitiker in dieser Liga mitbringen muss. Man muss sich Demütigungen und Schläge gefallen lassen. Das heißt nicht, dass man Dinge nicht persönlich nehmen würde (Politiker sind sehr sensibel und oft nachtragend, mit einem guten Gedächtnis). Aber man darf sich nie durch Anfeindungen und Rückschläge aus der Bahn werfen lassen. Es gilt die Maxime: Weiter machen, einfach weiter machen. Helmut Kohl hat dieses Prinzip bis zur Perfektion verfeinert: Das Kohlsche „Aussitzen“ war legendär. Als allgemeine Lebensweisheit, in der Sprache der Briten formuliert: „It ain't over till the fat lady sings.“

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Cornelius von Tiedemann
Cornelius von Tiedemann Stellv. Chefredakteur
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