Diese Woche in Kopenhagen

„Der Norden: revolutionär aber frei“

Der Norden: revolutionär aber frei

Der Norden: revolutionär aber frei

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Kopenhagen
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Greta Thunberg und Jonas Eika haben dem honorigen Nordischen Rat und der Jury den politischen Stinkefinger gezeigt. Darüber kann man geteilter Meinung sein, meint der Leiter des Kopenhagener Sekretariats der deutschen Minderheit in Dänemark, Jan Diedrichsen.

Über 100 Abgeordnete aus den skandinavischen Parlamenten sowie die Regierungschefs und Außenminister aus Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland und Island sowie aus den autonomen Gebieten Åland, Färöer und Grönland reisten in der vergangenen Woche nach Stockholm, um im schwedischen Riksdagen, im Rahmen des Nordischen Rates, über aktuelle politische Fragen zu diskutieren.

Neben den politischen Diskussionen verleiht der Nordische Rat mehrere Preise. Der Umwelt- und der Literaturpreis zählen zu den renommiertesten Auszeichnungen Skandinaviens und sind hoch dotiert. Ich war live dabei, als es bei der diesjährigen Verleihung in Stockholm gleich zum doppelten Eklat kam. Der feierliche Verleihungsakt wurde als Plattform für einen politischen Protest genutzt. Es manifestierte sich im Konzertsaal, wie gespalten die Gesellschaft derzeit darauf reagiert, dass sich eine weltweite (Jugend-)Protestbewegung abzeichnet, die hart mit den politischen Eliten ins Gericht geht.

Greta Thunberg (16) lehnte den Umweltpreis ab. Sie war von der schwedischen und norwegischen Regierung vorgeschlagen und setzte sich gegen mehrere Bewerber durch. Als ihre „Dankesrede“ von zwei Aktivistinnen verlesen wurde, war ihre Antwort gewohnt lakonisch und deutlich: „Ihr, die ihr heute hier seid, vertretet einige der reichsten Länder der Welt. Ihr tut nicht annähernd genug. Ich will euren Preis nicht, ich will, dass ihr endlich handelt“.

Anders als Greta, die derzeit in Amerika weilt, war Jonas Eika (28), der Gewinner des diesjährigen Literaturpreises, selbst anwesend. Der Autor des Romans „Efter solen / Nach der Sonne“ nutzte seine Redezeit für einen politisch-revolutionären Rundumschlag. Vor allem die dänische Regierungschefin Mette Frederiksen wurde unter Feuer genommen, verantwortlich für einen „staatlichen Rassismus“.

Als die Erklärung von Greta Thunberg verlesen wurde und sich abzeichnete, dass sie den Preis nicht würde annehmen wollen, sprang rund die Hälfte der Zuschauer von ihren Sitzen und applaudierte lautstark. Die andere Hälft wirkte indigniert und regte keinen Finger, um Beifall zu spenden. Deutlich weniger – aber dennoch einige – Besucher schwangen sich zu stehenden Ovationen auf, als Jonas Eika seine antikapitalistische Tirade ablieferte.

Ich habe viel über diesen Abend in dem Stockholmer Konzertsaal nachgedacht. Es war eine Wut über die politischen Zustände und Ungerechtigkeiten der Welt spürbar und eine Bewunderung für das nonkonformistische Verhalten von Greta Thunberg und Jonas Eika. Auf der anderen Seite hörte man mit Verärgerung in der Stimme vorgetragene Kritik an dem neuen „Jugendwahn“ und dem fehlenden Verständnis dafür, dass Demokratie Zeit und ruhigen Wandel brauche, keine revolutionären Kurzschlusshandlungen.

Greta Thundberg und Jonas Eika werfen den Eliten, dem Establishment, uns, Heuchelei vor. Wir, die Wohlsituierten, kümmern uns nur dann um Menschenrechte, um das Klima, um die Zukunft, wenn es nicht unsere eigene Komfortzone, unseren eigenen Wohlstand, in Frage stellt.

Natürlich war die Preisverleihung auch ein Versuch, die Gewinner zu vereinnahmen. Greta und Jonas haben dem honorigen Nordischen Rat und der Jury den politischen Stinkefinger gezeigt. Darüber kann man geteilter Meinung sein. Doch sollte bedacht werden, dass die sogenannten Eliten im Norden um die Greta Thunbergs und Jonas Eikas buhlen. Anderenorts würden sie niemals auch nur in die Nähe eines solchen Preises gelangen, sondern im Kerker verschwinden oder ihnen widerführe noch schlimmeres, wie den zahlreichen weltweit ermordeten Aktivisten und Menschenrechtlern der vergangenen Jahre.

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