Diese Woche in Kopenhagen

„Das Brexit-Gefühl“

„Das Brexit-Gefühl“

„Das Brexit-Gefühl“

Jan Diedrichsen
Jan Diedrichsen
Kopenhagen
Zuletzt aktualisiert um:

In seinem jüngsten Kommentar beschäftigt sich Jan Diedrichsen, der Leiter des Kopenhagener Sekretariats der deutschen Minderheit in Dänemark mit dem bevorstehenden Brexit.

Das Britische Unterhaus stimmt heute über die Zukunft Großbritanniens ab. Der Brexit-Plan von Theresa May steht zur Abstimmung. Derzeit rechnen die meisten Kommentatoren mit einem Scheitern der britischen Tory-Regierung. Was danach geschieht, ist ungewiss und hat vieles mit den Untiefen des britischen Parlamentarismus zu tun. Ein Drama, ohne klar erkennbares Ende, zeichnet sich ab.

Doch vielleicht ist der Anlass gegeben, die ganze – zugegebenermaßen hochdramatische – tagesaktuelle Politik zur Seite zu schieben und uns den Ursprung anzuschauen, wie es zu diesem „bloody mess“ kam, das nicht nur Großbritannien, sondern die gesamte EU gefährdet.

Als der damalige Premier David Cameron entschied, dass er das Für und Wider einer EU-Mitgliedschaft prüfen wolle, hat er keine Experten beauftragt oder die gewählten Mitglieder des Parlamentes zu Rate gezogen, nein, er hat mit dem Brexit-Referendum die Bevölkerung nach ihrer Einschätzung, ihrem Gefühl gefragt. Cameron wollte mit dem Referendum eine innenpolitische Krise durch einen politischen Husarenritt überwinden und ist mit seinem Vabanquespiel und „brinkmanship“ krachend gescheitert. Doch das Brexit-Referendum zeigt vor allem, dass es ein gefährliches Spiel ist, die Bevölkerung nach ihren Gefühlen zu fragen. Mir ist bewusst, dass ich mich mit meiner Antipathie gegen Volksbefragungen viele Ohrfeigen einfangen kann. Denn es ist ein Gemeinplatz zahlreicher Kommentatoren und Politiker, nicht zuletzt in Dänemark, man müsse nur die Bevölkerung fragen und dann werde alles gut. Es ist richtig, dass der Grundsatz lautet: Alle Macht geht vom Volke aus; damit ist aber nicht gemeint, dass jeder Bürger zu jederzeit, zu jedem Thema befragt werden kann oder sollte. Dafür haben wir die repräsentative Demokratie und wählen unsere Parlamente. Vor allem in Dänemark, mit einer reichen Tradition von (EU)-Volksbefragungen, sind viele der Auffassung, zumindest bei Fragen mit grundsätzlichem Charakter, solle doch bitte die Bevölkerung befragt werden, denn die wisse schon was richtig und falsch sei. Doch das ist eine grundlegend falsche Annahme. Bei solchen grundsätzlichen Fragen – wie der Brexitabstimmung – regieren nicht die Fakten, sondern Gefühle.

Der bekannte Biologe Richard Dawkins kritisierte den Brexit mit dem Argument, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung – inklusive ihm selbst – nie zu einem solchen Referendum hätten gezwungen werden dürfen, denn es fehle den weit meisten Menschen, an dem nötigen Hintergrundwissen in Ökonomie und Politikwissenschaft: „Sie können genauso gut ein landesweites Plebiszit abhalten, um zu entscheiden, ob Einstein richtig gerechnet hat, oder Sie könnten Flugpassagiere darüber abstimmen lassen, welche Landebahn der Pilot ansteuern soll“, erklärte Dawkins. (Zitat und Anregung aus Yuval Noah Harari, 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, C.H. Beck, 2018: S.76f).

Damit soll nicht ausgedrückt werden, dass wir alle keine Ahnung haben und es Aufgabe einer kleinen Elite sei, alle Entscheidungen zu treffen. In welche Abgründe uns dies führen kann, das lehrt die Geschichte ein ums andere Mal. Der Brexit hat vielmehr gezeigt, wie eine kleine Elite (Cameron und Co.) fahrlässig eine überwiegend unwissende und von Gefühlen geleitete Gruppe (Bevölkerung) zu einem Sachstand befragt und hat entscheiden lassen, der das Potenzial in sich birgt, Großbritannien wortwörtlich zu spalten und in den wirtschaftlichen und politischen Abgrund zu führen. Die Auswirkungen werden uns noch viele Jahre beschäftigen.

Mehr lesen

Diese Woche In Kopenhagen

Walter Turnowsky ist unser Korrespondent in Kopenhagen
Walter Turnowsky Korrespondent in Kopenhagen
„Hurra, der Kindersegen ist ausgeblieben!“

„Mojn Nordschleswig“

Jetzt im Podcast: Mit 18 nach Brüssel und die Trophäe aus Barcelona

Apenrade/Aabenraa Cornelius von Tiedemann begrüßt die Politik-Juniorinnen Amelie Petry und Wencke Andresen, die ihm von ihrer Reise nach Brüssel berichten – und Chefredakteur Gwyn Nissen, der aus Katalonien eine Überraschung mitgebracht hat. Walter Turnowsky befragt die Glaskugel nach dem Termin für die nächste Folketingswahl, und Helge Möller fordert Hannah Dobiaschowski in „Wer hat’s gesagt?“ heraus.

Amelie Petry, Wencke Andresen