Straßenschlachten

Ausschreitungen in Nordirland bedrohen den Frieden

Ausschreitungen in Nordirland bedrohen den Frieden

Ausschreitungen in Nordirland bedrohen den Frieden

dpa
Belfast
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Ein Mann geht an einem ausgebrannten Bus auf der Shankill Road in West Belfast vorbei. Foto: Peter Morrison/AP/dpa

Seit mehr als einer Woche kommt es zu Krawallen in Nordirland. Dutzende Polizisten wurden verletzt. Grund dürfte unter anderem der Sonderstatus der britischen Provinz durch den Brexit sein.

Ein Bus steht lichterloh in Flammen, Jugendliche schleudern Steine, Feuerwerkskörper und Molotowcocktails auf Polizisten.

Mit einem Wasserwerfer versuchen Beamte, eine Gruppe Randalierer in Schach zu halten. Die Szenen der vergangenen Nächte in Nordirland erinnern an den drei Jahrzehnte dauernden blutigen Konflikt in der britischen Provinz, der erst 1998 offiziell mit dem Karfreitagsabkommen endete - aber nie ganz aufhörte zu schwelen.

Seit gut einer Woche liefern sich Randalierende Straßenschlachten mit der Polizei, mehr als 50 Einsatzkräfte wurden bereits verletzt. Experten befürchten, dass sich die Gewalt weiter zuspitzt. «Es ist eine sehr besorgniserregende Zeit. Die Situation ist sehr instabil im Moment und Spannungen erhöhen sich», sagte die Konfliktforscherin Katy Hayward von der Queen's University Belfast der Deutschen Presse-Agentur.

Obwohl es vor allem junge Menschen sind, die sich kaum an die Zeit erinnern dürften, sind die Konfliktlinien noch immer die alten bei den Ausschreitungen in Belfast und Londonderry, das von Katholiken nur Derry genannt wird. Auf der einen Seite stehen die überwiegend protestantischen Unionisten, die um jeden Preis an der Zugehörigkeit Nordirlands zum Vereinigten Königreich festhalten wollen. Und auf der anderen Seite stehen die vorwiegend katholischen Befürworter eines gesamtirischen Nationalstaats durch eine Vereinigung Nordirlands mit der Republik Irland im Süden, auch Nationalisten genannt.

Zunächst spielte sich die Gewalt nur in unionistisch geprägten Straßenzügen ab, Auslöser war der Ärger über die Entscheidung der Strafverfolgungsbehörden, hochrangige katholische Politiker nach der Teilnahme an der großen Beerdigung eines ehemaligen Mitglieds der Terrorbewegung IRA nicht wegen Verstößen gegen die Corona-Regeln zu belangen. Auch die Regelungen des Brexit-Abkommens, wonach Nordirland de facto im Handelsraum der EU verbleibt, wird immer wieder genannt. Die Unionisten fühlen sich dadurch vom Rest des Vereinigten Königreichs abgekoppelt.

Inzwischen ist der Funke auch auf die katholisch geprägten Viertel übergesprungen. Vor allem die Polizei war das Ziel der Angriffe, aber teilweise wurden auch Geschosse direkt über die als Friedensmauern bezeichneten Zäune geworfen, die protestantische und katholische Bezirke voneinander trennen.

Politiker beider konfessioneller Lager verurteilten die Gewalt scharf. Seit einigen Jahren arbeiten sie mit wechselndem Erfolg in einer Einheitsregierung zusammen, in der die jeweils stärkste Partei aus beiden Lagern vertreten ist. Das ist derzeit auf der protestantischer Seite die Democratic Unionist Party (DUP) und auf katholischer Seite Sinn Fein, der ehemals politische Arm der Untergrund- und Terrororganisation IRA.

Doch die Spannungen sind allgegenwärtig, sowohl im politischen Tagesgeschäft als auch im Alltag. Schulen, Kindergärten, Pubs - man bleibt in Nordirland lieber unter sich. Auf beiden Seiten gibt es noch immer militante Gruppierungen, die das Gewaltmonopol des Staates nicht anerkennen und nicht davor zurückschrecken, Menschen die ihrer Ansicht nach gegen die Regeln verstoßen, beispielsweise mit Schüssen in die Kniekehle (Kneecapping) zu verstümmeln oder gar zu ermorden.

«Bei dem zerbrechlichen Friedensprozess in Nordirland geht es immer darum, beide Seiten vorsichtig auszubalancieren», sagt Katy Hayward, die seit Jahren dazu forscht. Was also hat diese Balance aus dem Gleichgewicht gebracht? «Ohne den Brexit wären wir nicht in dieser Situation», ist sich Hayward sicher. Von Beginn an spielte Nordirland bei den Brexit-Verhandlungen eine zentrale Rolle.

Durch den Austritt Großbritanniens ist die unsichtbare Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und der Republik Irland zur EU-Außengrenze geworden. Dennoch galt unbedingt zu vermeiden, dass dort eine harte Grenze mit Barrieren und Kontrollposten entsteht. Diese - so viel war allen Beteiligten klar - hätten erst Recht als Ziel von Angriffen katholisch-nationalistischer Seite gedient und die alten Konflikte befeuert.

Doch die Lösung dieses Problems war alles andere als einfach. Der sogenannte Backstop-Plan, der zunächst gefasst wurde, musste wegen des Widerstands in der konservativen Regierungspartei in Großbritannien wieder verworfen werden. Er hätte das ganze Land bis auf weiteres eng an die EU gebunden und damit Warenkontrollen überflüssig gemacht. Es war Boris Johnson, der die jetzige Regelung, das sogenannte Nordirland-Protokoll durchsetzte, wonach die Provinz im Handels-Orbit der EU bleibt.

Das hat jedoch zur Folge, dass an den Häfen kontrolliert werden muss, wenn Waren aus dem Rest des Königreichs nach Nordirland gebracht werden - und sorgt für Schwierigkeiten und Papierkram. Die Unionisten fühlen sich betrogen.

Und während EU und Großbritannien noch - flankiert von Ärger über Alleingänge und Provokationen - daran arbeiten, dass Nordirland-Protokoll in die Realität umzusetzen, reichen schon die ersten Kontrollen und Handelsbarrieren aus, um vor Ort die Wogen in die Höhe zu treiben. Derzeit gelten etwa für Supermärkte noch Übergangsregeln, mittelfristig stehen jedoch weitere Kontrollen und Formalitäten an. Katy Hayward sieht sowohl London als auch Brüssel in der Pflicht, die Sorgen der Menschen in Nordirland ernstzunehmen.

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