Leitartikel

„Das Ziel im Auge behalten“

Das Ziel im Auge behalten

Das Ziel im Auge behalten

Kopenhagen
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Die Schimpftiraden der Regierungschefin lösen Widerstand aus, so die Einschätzung eines Experten. Foto: Ólafur Steinar Rye Gestsson/Ritzau Scanpix

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Die kleine Gruppe der nicht Geimpften sei schuld, dass Corona nun wieder als gesellschaftlich kritische Krankheit eingestuft werden muss, so die Staatsministerin. Die Aussagen sind mehr als undifferenziert und wenig zielführend, meint Walter Turnowsky.

Staatsministerin Mette Frederiksen (Soz.) war nicht gerade zimperlich, als sie bei der Pressekonferenz Montagabend auf die knapp 13 Prozent zu sprechen kam, die sich gegen eine Corona-Impfung entschieden haben.

Sie trügen die „Verantwortung“ für den Anstieg der Infektionen und damit für die gesamte Gesellschaft. Diese Gruppe dürfe nicht alles „für die Übrigen kaputtmachen“, sie würden nicht die „Spielregeln“, die während einer Pandemie gelten, befolgen.

In diesem Zusammenhang darf man nicht vergessen, dass das Ziel war, dass 90 Prozent derer, die eine Impfung angeboten bekommen haben, diese annehmen. Am Dienstag waren 86 Prozent von ihnen fertig geimpft, 87,4 Prozent hatten den ersten Piks erhalten.

Hohe Impfquote

Die Frage muss also gestattet sein, ob wirklich die vier fehlenden Prozent an allem schuld sind. Hier soll nicht die Aussage von Virologen infrage gestellt werden, es seien vor allem ungeimpfte Personen, die geimpfte Personen anstecken. Aber unter ihnen sind etliche Kinder unter 12 Jahren, die bekanntlich zumindest bislang keine Impfung angeboten bekommen haben.

Nun könnte man natürlich argumentieren, nicht 90 Prozent, sondern 100 Prozent müssten erreicht werden. Doch das war nie realistisch und eben daher auch nicht die Zielvorgabe.

Verantwortung der Regierung

Auch sei daran erinnert, dass Regierung und Behörden wiederholt betont haben, dass Impfungen freiwillig seien. Und mit der Linie ist Dänemark gut gefahren; die Impfquote zählt zu den weltweit höchsten.

Die Frage ist daher, ob nicht, wenn Frederiksen nun mit dem Finger auf nicht geimpfte Personen zeigt, der alte dänische Spruch gilt, dass vier Finger immer auf einen selbst zeigen. Denn warum hat die Regierung keine mittelfristige Strategie entwickelt, die die jetzige Situation (die wie erwähnt fast den Zielvorgaben entspricht) als Voraussetzung hatte?

Warum hat sie die Empfehlungen zu einer solchen Strategie, die eine Expertengruppe im September veröffentlicht hat, in einer Schublade verschwinden lassen?

Ein anderer Faktor ist auch nicht ganz unwesentlich: Der Direktor der Gesundheitsbehörde Søren Brostrøm sagte, dass das Risiko einer Überlastung nicht alleine dem Coronavirus geschuldet ist, sondern auch der Situation an den Krankenhäusern. Es sind nicht die Menschen, die sich gegen eine Impfung entschieden haben, die die Verantwortung für den Frust des Pflegepersonals nach dem Arbeitskonflikt im Sommer tragen.

Harte Rhetorik verstärkt Widerstand

Doch eines ist noch viel wichtiger als die Frage, wie sympathisch die Schuldzuweisungen der Staatsministerin sind, und das ist die Tatsache, dass sie ihr Ziel nicht erreichen werden. Im Gegenteil, wie der Leiter des Hope-Projekts, Professor Michael Bang Petersen, betont. Er und sein Team untersuchen die Einstellung und das Verhalten der Bevölkerung während der Corona-Krise.

Seine Einschätzung: Die harte Rhetorik würde die Gräben nur tiefer graben. Wer, wie die meisten Impfskeptikerinnen und Impfskeptiker, geringes Vertrauen in die Behörden habe, ließe sich auf diese Weise nicht überzeugen. Impfskepsis werde stattdessen zu Impfwiderstand.

Gewiss, viele von uns werden gegenüber Impfskeptikern Unverständnis, Frust und Wut empfinden. In einer ernsten Situation wie der Pandemie müssen wir jedoch von der Regierungschefin verlangen, dass sie solche Gefühle nicht bedient, sondern das tut und sagt, was ans Ziel führt.

Langfristige Strategie fehlt

Wie zielführend die Aufforderung an das Pflegepersonal, wieder einen extra Einsatz zu leisten, war, konnte man an den Reaktionen bereits unmittelbar nach der Pressekonferenz am Montag ablesen. Krankenschwestern und -pfleger sind wütend, einige von ihnen drohen mit Punktstreiks. 

Und in puncto zielführend hat Bang Petersen gleich noch einen Hinweis: Es muss eine langfristige Strategie her, und das muss auch klar und deutlich kommuniziert werden. Das würde nämlich die überwiegende Mehrheit, die bestrebt ist, den Richtlinien und Empfehlungen zu befolgen, motivieren.

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