Interview

Spinnen – missachtete Tausendsassas

Spinnen – missachtete Tausendsassas

Spinnen – missachtete Tausendsassas

Wolfgang Bäumer
Hirschberg
Zuletzt aktualisiert um:
Jörg Wunderlich
Der Paläoarachnologe mit einer Zitterspinne. Typisch sind für diese Webspinnen-Familie die langen, grazilen Beine. Foto: Wolfgang Bäumer

Wer mag die Achtbeiner schon? Jörg Wunderlich ist einer der wenigen. Ein Gespräch mit dem Forscher über die vom Insektensterben gebeutelten Tiere.

Jörg Wunderlich, 79, ist ein international anerkannter Spezialist für fossile Spinnen (Paläoarachnologe). Seit mehr als fünf Jahrzehnten erforscht er die verwandtschaftlichen Beziehungen, die Evolution und die Verbreitung der Spinnentiere, vor allem der Webspinnen. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Urgeschichte der Achtbeiner, die seiner Ansicht nach mehr Beachtung verdienen, auch in der Wissenschaft. Jörg Wunderlich hat mehr als 1500 Arten, darunter viele fossile, entdeckt und beschrieben und zahlreiche Bücher publiziert.

Herr Wunderlich, warum machen uns Spinnen so bange?
Furcht und Abscheu vor kleinen, schnellen, haarigen Objekten haben eine lange Tradition. Instinktiv schrecken wir zurück, wie unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen. Dieses archaische Verhalten können wir beeinflussen, indem wir über Spinnen aufklären und die Begegnung mit ihnen suchen.

Was empfehlen Sie gegen Spinnenangst?
Zunächst, sich über diese faszinierenden Krabbeltiere zu informieren. Eine Kreuzspinne unter der Lupe, eine Vogelspinne auf dem Arm – das sind wirksame Gegenmittel. Ich selbst habe in Schulen Versuche gemacht und Schülern eine Vogelspinne auf die Hand gesetzt, dabei war die Faszination oft stärker als die Angst. Was mich überraschte: Jungen zeigten mehr Scheu als die Mädchen. In anderen Regionen der Welt sind Spinnen sehr beliebt, zum Beispiel in Teilen Südostasiens, wo sie als Glücksbringer gelten und öffentlich Kämpfe Spinne gegen Spinne ausgetragen werden.

Die Fluginsekten schwinden dramatisch, nicht nur in Deutschland. Forscher befürchten, in den nächsten Jahrzehnten könnten weltweit 40 Prozent aller Insektenarten aussterben. Um die Spinnen sorgt sich keiner. Wie geht es den haarigen Achtbeinern?
Ich kenne keine Langzeitstudien, halte es aber für wahrscheinlich, dass sie in ähnlicher Weise betroffen sind wie die Insekten. Die Zahl der Individuen und der Arten dürfte stark abgenommen haben, zumindest in Mitteleuropa. Das wäre auch nachvollziehbar, schließlich ernähren sich fast alle Spinnen ausschließlich von Insekten.

Die Webspinnen sind die größte Ordnung der Spinnentiere, weltweit kennt man 50.000 Arten. Welche Bedeutung haben sie für den Menschen?
Erstens: Sie tun uns nichts. Fast alle besitzen Giftdrüsen, aber in Deutschland gibt es keine Art, die uns umbringen könnte. Weniger als 20 Arten sind gefährlich, und die leben fast alle in den Tropen. Zweitens: Webspinnen sind nützlich. Als Erbeuter vieler Insekten, unter anderem von Stechmücken in Gebäuden – denken wir an die allgegenwärtige Zitterspinne – kommt ihnen eine große ökologische Bedeutung zu.

Sie sagen, Spinnen seien winzige biologische Wunderwerke.
Ja, sie können Erstaunliches: weben, springen, zittern, tanzen, winken, trommeln, hungern, zischen, Tunnel graben, Taucherglocken bauen, Seide auf Fressopfer speien, kopfunter auf spiegelglatten Flüchen krabbeln, ohne abzustürzen, sich rotierend in Sicherheit bringen oder Salto schlagend. Manche laufen auf dem Wasser, andere besitzen Augen, die wie Zoomobjektive funktionieren, etwa die Springspinnen. Fliegen können sie auch, obwohl Spinnen keine Flügel haben. Es gibt sogar Arten, die als Teil-Veganer leben und Pollen verzehren.

Aelurillus lucasi
Die Springspinne Aelurillus lucasi, die auf den Kanarischen Inseln heimisch ist Foto: Ernst Klimsa

 

Manche Spinnen pflegen bizarre Liebesrituale.
In der Tat ist das Fortpflanzungsverhalten der Spinnen einzigartig im Tierreich. Die Männchen gelangen ohne Penis zum Ziel und werden bei manchen Arten nach dem Liebesakt vom Weibchen verspeist, wie bei der Schwarzen Witwe, die ihren Namen zu recht trägt.

Trotzdem interessiert sich die Forschung kaum für Spinnen.
Da spielen sicher auch praktische Gründe mit. Schmetterlinge sind wegen ihrer Schönheit besonders beliebt und wurden gesammelt. Käfer bestachen ebenfalls durch Vielfalt, Größe und Farbenpracht. Hinzu kommt, dass Schmetterlinge, Käfer, Wespen und Verwandte sich leichter untersuchen und als Trockenpräparate verwahren lassen, weil sie ein hartes Außenskelett haben. Spinnen sind weicher gebaut als Insekten, viele müssen in Alkohol konserviert werden und verlieren dann oft ihre Farbenpracht.

Als Paläoarachnologe haben Sie ein Problem: Sie können sich fachlich kaum austauschen.
Ich kenne weltweit nur ganz wenige Kollegen, die sich mit fossilen Spinnen befassen. Die Paläoarachnologie ist ein neues Forschungsgebiet, es gibt noch keine speziellen Fachblätter, Kongresse oder Institute.

Wie kamen sie zu dieser Wissenschaft?
Ich konnte viele Merkmale und Unterschiede anhand der heutigen Arten nicht ausreichend erklären und beschreiben. Wichtige Fragen zur Evolution und Systematik blieben offen, auch die ungewöhnliche Verbreitung einiger Gruppen bereitete mir Kopfzerbrechen. So fing ich an, Versteinerungen und Bernsteineinschlüsse zu untersuchen, wobei mir mehr als 100.000 Spinnen vor allem in Baltischem Bernstein vorlagen.

Bis heute haben Sie dazu 15 Bücher verfasst.
Kein Mensch interessierte sich für fossile Spinnen, ich betrat Neuland. Heute staune ich immer noch über die Dimensionen. Es gibt versteinerte Spinnen, die 300 Millionen Jahre alt sind, es gibt Bernsteineinschlüsse, die 140 Millionen Jahre überdauert haben. Bernstein ist ein wundervolles Material, unter dem Binokular erkennt man noch die kleinsten Strukturen.

Jörg Wunderlich
Jörg Wunderlich ist ein international anerkannter Spezialist für fossile Spinnen (Paläoarachnologe). Er erforscht seit über 50 Jahren die Evolution und die Verbreitung der Tiere. Foto: Wolfgang Bäumer

 

Die Zahl der Arten, die Sie entdeckt und beschrieben haben, ist bemerkenswert: Rund 1.500, die fossilen Exemplare eingeschlossen – das ist Platz Drei hinter EugËne Simon (3.800 Arten) und Norman I. Platnick (1.800 Arten). Was fasziniert Sie so an Spinnen?
Auf den ersten Blick sehen sich viele Arten sehr ähnlich, aber wenn man genauer hinschaut, entdeckt man eine enorme Vielfalt in Gestalt, Färbung, Größe und Verhalten. Bei ausgewachsenen Tieren habe ich Körperlängen zwischen – 0,33 Millimetern – das entspricht einem dicken Punkt - und 6 Zentimetern gemessen. Auch die Anpassung an Lebensräume ist atemberaubend. Spinnen finden wir in tiefen Höhlen, auf hohen Berggipfeln, unter Wasser. Sie haben es geschafft, alle Kanarischen Inseln zu besiedeln. Zwei Bücher habe ich allein über die kanarischen Arten verfasst; die meisten Arten sind Endemiten, das bedeutet, es gibt sie nirgendwo sonst auf der Welt.

Im vorigen Jahr ist in Burmesischem Bernstein aus Myanmar eine geschwänzte Spinne entdeckt worden.
Eine sensationeller Fund! Das 100 Millionen Jahre alte Fossil erinnert an einen Skorpion, hat aber keinen Giftstachel, der für Skorpione typisch ist. Nahe der Schwanzwurzel befinden sich gut ausgebildete Spinnwarzen - das wohl wichtigste Merkmal der Webspinnen. Skorpione und andere Spinnentiere besitzen keine Spinnwarzen.

Wozu diente der Schwanz?
Das wissen wir noch nicht, möglicherweise war er mit Geruchsrezeptoren ausgestattet und wurde aufgerichtet wie eine Antenne. Auf jeden Fall ist er ein uraltes Merkmal der Spinnentiere. Diese Spinne hat es bis ins Erdmittelalter geschafft, danach wurden keine geschwänzten Vertreter mehr nachgewiesen.

Was teilt uns diese geschwänze Spinne wissenschaftlich mit?
Wir haben ein fossiles Bindeglied gefunden, das belegt, dass die heutigen Skorpione und Webspinnen einen gemeinsamen Vorläufer haben.

Welche Erkenntnisse liefert die Paläoarachnologie noch?
Während die Vogelspinnen seit 200 Millionen Jahren existieren, sind die Radnetzspinnen, Wolfspinnen und Springspinnen sehr spät entstanden, nämlich nach dem Asteroiden-Einschlag vor 65 Millionen Jahren, der zum Aussterben der Dinosaurier und vieler weiterer Tiere und Pflanzen der Kreidezeit führte. Das ist eine brandneue überraschung für die Wissenschaft, belegt durch Fossilien in Bernstein. Was uns Rätsel aufgibt: Vor über 40 Millionen Jahre lebten im Baltischen Bernsteinwald tropische Spinnen und Urspinnen, die heute auf der Nordhalbkugel ausgestorben sind. Seltsamerweise findet man sie noch auf der Südhalbkugel, in Australien, Südafrika und auf Madagaskar.

Welche Erfindungen (Innovationen) haben die Spinnen während der Evolution entwickelt?
An erster Stelle stehen die vielfältigen Funktionen der Spinnfäden, mit denen raffinierteste Fangnetze gebaut werden. Neben Radnetzen gibt es Speinetze, Wurfnetze und Fußangeln, in denen sich Ameisen verfangen. Dicht gewebte Kokons schützen Spinneneier vor Parasiten. Alle Spinnen produzieren Weg- und Sicherheitsfäden, an denen sie sich nach Abstürzen emporhangeln können. Jungspinnen sind in der Lage, einen Faden in die Luft zu schießen und an diesem Fadenfloß viele hundert Kilometer zu fliegen, um neue Lebensräume zu erschließen. Die enorme Beweglichkeit und das Sprungvermögen vieler am Boden lebender Arten, zum Beispiel der Springspinnen, halte ich auch für eine wichtige Errungenschaft.

Die Produktion, Zusammensetzung und Verwendung der Spinnfäden verblüfft selbst Ingenieure.
Gleichwertige Spinnenseide künstlich zu erzeugen, will nicht recht gelingen. Die Evolution hat die Fängigkeit von Fangnetzen auf raffinierte Weise verbessert: mit Klebetröpfchen und mit Fangfäden. Die Radnetzspinnen versehen ihre Spinnfäden mit klebrigem Sekret, das es Beutetieren schwer macht, sich zu befreien. Oft lähmen sie ihr Opfer mit einem Giftbiss, umwickeln es mit Seide und machen ein wehrloses Fresspaket daraus. Anders jene Arten mit Spinnsieb (Cribellum): Ihre Spinndrüsen produzieren Fäden, die mit feinster Fangwolle umhüllt sind, die ähnlich gut haftet wie Klebetröpfchen. Solche Fangfäden können nicht austrocknen, das ist in heißen Regionen ein Vorteil.

Die Spinnenforscher streiten darüber, ob das Radnetz einmal oder mehrmals unabhängig voneinander entstanden ist. Was meinen Sie?
Wahrscheinlich ist es vor über 100 Millionen Jahren mindestens zweimal unabhängig voneinander entstanden. Dafür sprechen fossile Spinnen mit und ohne Spinnsieb, die ich in Burmesischem Bernstein entdeckt habe, zusammen mit Teilen von Radnetzen, manche mit Klebetröpfchen, manche mit Fangwolle.

Welche Innovationen gab es im Reich der Sinne?
Zum Beispiel Sinneshärchen an den Beinen, mit denen viele Spinnen riechen können. Oder die exzellenten Augen der Springspinnen (Foto), die Farben unterscheiden, ultraviolettes Licht wahrnehmen, ihre Netzhaut verschieben und dank ihres räumlichen Sehvermögens Beutetiere gezielt anspringen können. Andere Arten können über Becherhaare an den Beinen Luftschwingungen wahrnehmen und Beutetiere und Fressfeinde orten.

Zurück in die Zukunft. Welche Folgen hätte es, wenn die Biomasse der Spinnen dramatisch schwinden würde?
Das lässt sich noch nicht abschätzen. Ich fürchte, dass in der Landwirtschaft noch mehr Insektengifte eingesetzt würden, mit schweren mittel- und langfristigen Folgen für Mensch und Umwelt.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Vor allem: weniger Einsatz von Insektiziden, damit die Spinnen weniger begiftete Insekten fressen. Neonicotinoide stören ihre Lebensräume derart, dass sie sich nicht mehr ansiedeln. Wir brauchen auch mehr Geld, um die Vielfalt und Bedeutung der Spinnen genauer erforschen zu können. Vor fünfzig Jahren hatte ich auf der winzigen Pfaueninsel, einem Naturschutzgebiet im Berliner Wannsee, mehr als ein Drittel aller deutschen Spinnenarten nachgewiesen, die damals nördlich der Alpen vorkamen, Das waren über 310 Species. Es könnte ein spannendes Projekt sein, den heutigen Stand auf der Pfaueninsel zu ermitteln.

Herr Wunderlich, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Wolfgang Bäumer

 

Jörg Wunderlich

Deutscher Arachnologe, geboren am 19. Dezember 1939 in Berlin.
War 25 Jahre Lang Gymnasiallehrer in Baden-Württemberg. Publiziert seit vielen Jahren über Spinnen, mit dem Schwerpunkt der Taxonomie (also der Zuordnung von bestimmten Tieren), der Faunistik und Biogeografie. Besonders die Spinnen Makaronesiens, also der  Afrika im Zentralatlantik vorgelagerten Inselgruppen Kanaren, Madeira, Kapverdische Inseln und Azoren.

 

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