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Der Muster-Sozialdemokrat: Hans-Jochen Vogel ist gestorben

Der Muster-Sozialdemokrat: Hans-Jochen Vogel ist gestorben

Der Muster-Sozialdemokrat: Hans-Jochen Vogel ist gestorben

dpa
München
Zuletzt aktualisiert um:
Hans-Jochen Vogel Foto: Christof Stache/AFP/Ritzau Scanpix

Was Hans-Jochen Vogel anpackte, hatte meist etwas Mustergültiges an sich. Kaum ein anderer Nachkriegspolitiker konnte auf so viele Spitzenämter zurückblicken wie der selbstkritische Sozialdemokrat.

Noch im hohen Alter trieben der drohende Zerfall Europas und die Lage der SPD Hans-Jochen Vogel um. Obwohl es ihm seine Parkinson-Erkrankung kaum noch erlaubte, seine Gedanken lesbar zu Papier zu bringen, schrieb der ehemalige SPD-Chef im Sommer 2019 noch ein Buch über den nicht nur in seiner Wahlheimat München außer Kontrolle geratenen Miet- und Immobilienmarkt. Mit seinem letzten Buch „Mehr Gerechtigkeit“ verfolgte Vogel aber noch ein anderes Ziel: Ein letztes Mal wollte er Einfluss auf die Programmatik seiner Partei zu nehmen und sich zugleich auch einen eigenen politischen Fehler von der Seele schreiben. Nun ist er im Alter von 94 Jahren in München gestorben.

„Gutes Gewissen“ der SPD

In der SPD galt Vogel immer als Muster-Politiker und bis zuletzt als gutes Gewissen mit unerschütterlichen moralischen Grundsätzen. Doch mit Blick auf die explodierenden Preise für Baugrund gab er sich im November 2019 sehr selbstkritisch: „Auch ich hätte in meinen verschiedenen Funktionen, die ich bis 1991 innehatte, das Thema eigentlich im Auge behalten und wieder aufgreifen müssen.“

Abgesehen vom großen Thema „soziale Gerechtigkeit“ trieb Vogel bis ins hohe Alter aber noch ein anderes Problem unserer Zeit um: der drohende Zerfall Europas. Schon als der Austritt Großbritanniens aus der EU sich erst erstmals abzeichnete, sagte Vogel, dass 70 Jahre Frieden in Europa nur durch die Überwindung des Nationalismus möglich geworden seien. „Wir haben in einem gemeinsamen europäischen Haus zueinander gefunden.“

Seine Parkinson-Erkrankung hatte Vogel erst wenige Jahre vor seinem Tod öffentlich gemacht, bis zuletzt lebte er mit seiner Frau Lieselotte in einer Seniorenresidenz in München. Hier ließ er sich – sofern es seine Gesundheit zuließ – von Freunden, Journalisten und auch Parteifreunden besuchen. Mit ihnen diskutierte er dann auch gerne über hochaktuelle Fragen wie die Flüchtlingskrise oder die Gefahren, die von Pegida & Co. ausgehen. Wer Vogel erreichen wollte, der brauchte viel Geduld – Handy und Computer verschmähte er. Das passte zu einem, der in seiner aktiven Zeit für das penible Aufbewahren seiner Unterlagen in Klarsichthüllen bekannt war.

„Wir sollten nie in Vergessenheit geraten lassen, dass die Sozialdemokraten 1933 die Ehre der Demokratie hochgehalten haben“

Vogel fühlte und litt auch hochbetagt noch immer mit – mit der Politik, mit seiner Partei, auch mit seinen Nachfolgern. Und dann ermahnte er seine Partei, selbstbewusst zu sein: „Was die Sozialdemokratie für Freiheit und Demokratie und Gerechtigkeit in 150 Jahren geleistet hat! Wir sollten nie in Vergessenheit geraten lassen, dass die Sozialdemokraten 1933 die Ehre der Demokratie hochgehalten haben. Wir sind nicht eine Tageserfindung, sondern wir sind ein gestaltendes Element der deutschen Geschichte.“

Vogel selbst hat diese deutsche Geschichte ein Stück weit mitgestaltet: Mit 34 Jahren wurde der in Göttingen geborene Professoren-Sohn Oberbürgermeister in München - und damit jüngster OB einer deutschen Großstadt. Die 4444 Amtstage an der Isar prägten ihn stärker als spätere Stationen. Er half, die Olympischen Spiele 1972 nach München zu holen. Wegen heftiger Auseinandersetzungen mit der SPD-Linken warf der damalige Vertreter der Parteirechten das Handtuch und ging in die Bundespolitik.

Sein jüngerer Bruder Bernhard ging ebenfalls in die Politik – allerdings in die CDU. Er wurde Ministerpräsident gleich zweier Bundesländer, Rheinland-Pfalz und später Thüringen.

Die Karriere von Hans-Jochen Vogel war gezeichnet von Glanzpunkten wie Niederlagen: Bundesbau- und Bundesjustizminister, für knapp vier Monate Regierender Bürgermeister in Berlin, SPD-Partei- und Fraktionschef – und Kanzlerkandidat. Doch da unterlag er Helmut Kohl.

Für Vogel hat es nie zum Bundeskanzler gereicht

Dass er ein tüchtiger Bundeskanzler geworden wäre, davon waren nicht nur Weggefährten wie Helmut Schmidt überzeugt. Grund für Verbitterung, dass ihm dieser Gipfel versagt blieb, sah Vogel aber nicht. „Die Belohnung für ein engagiertes und nicht eben unfleißiges Leben sehe ich darin, dass ich mit mir einigermaßen im Reinen bin. Das ist mir wichtiger, als wenn ich damals gegen Helmut Kohl Kanzler geworden wäre“, zog Vogel in der Rückschau Bilanz.

Vor der härtesten Bewährungsprobe stand Vogel - gemeinsam mit Kanzler Schmidt und anderen – während der Zeit des RAF-Terrorismus. „Die schwierigste Entscheidung, an der ich beteiligt war, war die Entscheidung nach der Entführung von Hanns Martin Schleyer und nach der Entführung der „Landshut“, sagte Vogel, der damals Justizminister war. Es war die Entscheidung, der Forderung der RAF-Terroristen nicht nachzugeben. Schleyer starb. „Das ist etwas, was einen auch heute noch beschäftigt“, sagte Vogel rückblickend.

Diese Monate waren es, die Vogel und Schmidt zusammenschweißten. „Für mich war er eine große Stütze in den Jahren des RAF-Terrorismus“, schrieb Schmidt später. Aus Weggefährten wurden Freunde.

Tausenden von Mitbürgern aus Not und Bedrängnis ganz konkret geholfen zu haben, das war für Vogel der persönlich wichtigste Erfolg dieses langen Lebensabschnitts. Diese praktische Lebenshilfe geschah meist geräuschlos. Wer sich an „Doktor Vogel“, wie ihn Parteifreunde in einer Mischung aus aufrichtigem Respekt und ironischer Distanz nannten, hilfesuchend wandte, blieb fast nie ohne Antwort.

Nie wurde er mit Skandalen und Affären in Verbindung gebracht

Führen heißt Dienen, war eine von Vogels Maximen. Politiker in der Demokratie müssten Grundüberzeugungen folgen und Anstand und Moral auch vorleben, lautete eine andere: „Man predigt mit seiner eigenen Lebensführung mehr als mit Worten.“ Nie wurde er mit Skandalen und Affären in Verbindung gebracht.

Mit der ihm eigenen Art lehnte Vogel auch die kleinste Vorteilsnahme ab. Da er auf Auslandsreisen grundsätzlich nicht in der Business-Klasse flog, mussten etwa ihn begleitende Wirtschaftsbosse mit in die Holzklasse. Als Münchner OB fuhr er mit der Straßenbahn ins Rathaus, um der Stadt Überstunden für den Fahrer zu ersparen.

Auch seinen Rückzug aus der aktiven Politik plante er sorgfältig. In seiner letzten Rede im Bundestag nach 22 Jahren Ende Juni 1994 zitierte der gläubige Katholik Papst Johannes XXIII: „Giovanni, nimm dich nicht so wichtig.“ Dies sei auch ein gutes Leitwort für ihn, um Abschied zu nehmen.

Immer wenn es später in der SPD brenzlig wurde, brauchte man Vogel nicht lange um Hilfe zu bitten. Der Rat des „Elder Statesman“ war zunehmend wieder gefragt. Mit ganzer Autorität warf er sich auf Parteitagen in die Bresche. Als Gerhard Schröder 2003 mit seiner Reform-Agenda mit dem Rücken zur Wand stand, sicherte Vogel in einer furiosen Rede dem SPD-Kanzler die Mehrheit. „Seid nicht so wehleidig“, rief er den konsternierten Delegierten zu. Vogel und seine Weckrufe werden nicht nur der SPD fehlen.

 

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