Flensburger Professorin

Ausgangssperre ist nicht verhältnismäßig

Ausgangssperre ist nicht verhältnismäßig

Ausgangssperre ist nicht verhältnismäßig

Antje Walther/shz.de
Flensburg
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Prof. Anna Katharina Mangold von der Europa-Universität Flensburg hat für die Gesellschaft für Freiheitsrechte ein Gutachten geschrieben über die „Grundrechtliche Bewertung einer Ausgangssperre zur Pandemiebekämpfung“. Foto: Michael Staudt

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Prof. Anna Katharina Mangold von der Europa-Uni Flensburg hält die Corona-Maßnahme für nicht verhältnismäßig.

Bundestag und Bundesrat entscheiden über die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes, das einheitlich für die gesamte Bundesrepublik eine Notbremse einführt. Anna Katharina Mangold arbeitet seit einem Jahr zu den Grundrechtseinschränkungen durch die Pandemie-Maßnahmen. Im Auftrag der Gesellschaft für Freiheitsrechte hat die Professorin der Europa-Universität Flensburg die Ausgangssperre grundrechtlich bewertet. Sie hält die Corona-Maßnahme für verfassungswidrig. Im Interview begründet sie dies und erklärt, wie man es besser machen könnte.

Ist Ausgangssperre juristisch dasselbe wie Ausgangsbeschränkung?

Das ist das gleiche. Umgangssprachlich wird das Ausgangssperre genannt. Es ist gemeint, dass Leute daran gehindert sind durch das gesetzliche Verbot, nach außen zu gehen, ihre Wohnungen zu verlassen.

Wer darf so etwas verhängen?

Verhängen darf es die staatliche Gewalt, wenn sie, weil das mit Grundrechtseinschränkungen verbunden ist, dafür eine gute Rechtfertigung liefern kann. Die staatliche Gewalt gliedert sich auf. Wir haben bislang gesehen, dass etwa in Flensburg durch eine Allgemeinverfügung auch eine Ausgangssperre verhängt wurde, durch die Oberbürgermeisterin. Wir haben auch gesehen, dass in den Landesrechtverordnungen zur Ausführung des Infektionsschutzgesetzes Ausgangssperren ermöglicht wurden, also Rechtsgrundlagen geschaffen, damit lokal Ausgangssperren verhängt werden können. Teilweise wurden auch automatische Regelungen geschaffen, etwa in Baden-Württemberg. Das heißt, es kann auch durch die Landesregierung verhängt werden. Jetzt ist der neueste Ansatz, dass das in einem Bundesgesetz an einen automatischen Mechanismus geknüpft werden soll, nämlich, wenn der Inzidenzwert 100 überschritten ist.

Sie haben in Ihrem Gutachten festgestellt, dass das nicht rechtmäßig ist...

Ich habe gesagt, dass die Ausgestaltung im Infektionsschutzgesetz verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt werden kann.

Das heißt, theoretisch ist es möglich, das so auszugestalten, dass es rechtmäßig wäre. Aber in diesem speziellen Fall ist es nicht rechtmäßig. Wie begründen Sie das?

Genau, das ist mir sehr wichtig: Es ist kein Gutachten, das sich generell gegen Corona-Maßnahmen richtet oder die Ausgangssperre. Es mag sein, dass es ein Konzept gibt zur Bekämpfung der Pandemie, in dem Ausgangssperren absolut notwendig sind, um das letzte Quäntchen Reduktion des R-Wertes herauszuquetschen. Das ist im Moment nicht der Fall. Der Hauptbegründungspunkt, ist, dass wir einen Jojo-Lockdown haben werden. Weil nämlich der Eingangswert für den Beginn der Ausgangssperre genau der gleiche ist wie der Ausgangswert. Wenn der Wert 100 überschritten ist, dann wird die Ausgangssperre aktiviert. Wenn der Wert unterschritten ist, zum Beispiel bei 99,9, wird das sofort wieder aufgehoben. Es ist aber klar, dass dann die Zahlen sofort wieder steigen werden, und dann sind wir sofort wieder im Lockdown. Sinnvoller wäre es sicherlich, wenn man einen Wert wählt, der weit weg ist von 100, so dass man eine effektive Bremsung des pandemischen Geschehens hätte.

Sie erheben auch den Vorwurf, es gebe kein Gesamtkonzept. Ist das so? Wenn der Gesetzgeber die Notbremse mit verschiedenen Maßnahmen konzipiert und das für das gesamte Bundesgebiet geltend macht, kann man das nicht als Gesamtkonzept betrachten?

Ein Gesamtkonzept, was eine Rechtfertigung einer Ausgangssperre herbeiführen würde, die das schärfste Schwert in den Pandemie-Maßnahmen ist, das wäre ein Modell, wo wir unterschiedliche Maßnahmen haben, die alle so ineinander greifen, dass zwar bei jeder Maßnahme noch die Möglichkeit besteht, dass es weiterhin zu Übertragungen des Virus kommt. Aber dass alle zusammen so wirken, dass genau diese Lücken geschlossen werden. Ein solches Gesamtkonzept müsste zielen auf eine Inzidenz, bei der das pandemische Geschehen tatsächlich nachhaltig stabilisierbar ist. Das RKI (Robert-Koch-Institut, Anm. d. Red.) hat Mitte März gesagt: Eigentlich ist das nur möglich, wenn wir Inzidenzen zwischen null und maximal 35 anstreben. Wahrscheinlich muss man den Wert sogar nochmal verringern, weil wir die infektiösere und pathogenere Variante B.1.1.7. sehen können. Ein Vorschlag wäre, den Wert unter zehn zu halten. Das wäre ein Gesamtkonzept, wo auch die einzelnen Bürgerinnen und Bürger wüssten, wofür sie die Anstrengungen auf sich nehmen. Im Moment sehen wir ein Vorgehen, wo wir bei noch sehr hohen Inzidenzen wieder lockern – prompt gehen die Zahlen wieder nach oben und prompt kommt es wieder zu Schließungen. Das ist eben kein nachhaltiges Konzept. Hier werden die Grundrechte auf Dauer an und aus gestellt, und das nenne ich einen Jojo-Lockdown. Das ist das Hauptproblem, das es mit der konkreten Ausgestaltung der Ausgangssperre gibt.

Das bedeutet, dass Sie nicht rein juristisch argumentieren, sondern die (natur)wissenschaftlichen Grundlagen, die das RKI zur Verfügung stellt, in Ihre Überlegungen einfließen lassen.

Diese Grundlagen sind wichtig für die rechtliche Bewertung, weil eine Maßnahme nur dann gerechtfertigt werden kann als Eingriff in Grundrechte, wenn sie geeignet ist, den gesetzten Zweck – also hier Schutz von Leib und Leben, Erhaltung des Gesundheitssystems, Verhinderung der Ausbreitung von Mutationen – zu erreichen. Bei dieser Ausgangssperre ist das sehr fraglich. Dann muss sie auch erforderlich sein. Bei Grundrechten ist es immer so, dass ein Mittel nur ergriffen werden darf, wenn es keine milderen Mittel gibt, die gleich effektiv sind. Im Gutachten habe ich argumentiert, dass es effektivere Mittel gäbe, nämlich erstmal auszuschöpfen, dass das Berufsleben reguliert wird, bevor wir anfangen, das Privatleben noch stärker zu regulieren. So fügt sich die wissenschaftliche Betrachtung in die verfassungsrechtliche Betrachtung ein. Die rechtliche Betrachtung fordert sogar, dass die staatliche Gewalt wissenschaftliche Erkenntnisse zur Kenntnis nimmt und nicht auf der Basis politischer Kompromisse Zahlen erfindet.

Wie erklären Sie sich, dass es die einen gibt, die auf jeden Fall die Ausgangssperre als das Allheilmittel sehen, und die anderen, die sagen, das ist ein Verstoß gegen die Verfassung? Wie erklären Sie sich vielleicht auch die Emotionalität?

Das ist eine Erklärung, die ich als Bürgerin gebe, die ich das politische Geschehen beobachte: Wir Bürgerinnen sehen, dass hier Maßnahmen ergriffen werden, die ersichtlich ins Nirvana führen. Und das macht die Leute sauer. Das macht sie auch verzweifelt, weil kein Ende absehbar ist, und weil sie sehen, das Privatleben wird massiv beschränkt, während das Berufsleben so gut wie gar nicht beschränkt wird. Da gibt es eine Disparität. Ich bin ja selber sehr dafür, dass wir höchst vorsichtig mit dem Virus umgehen, aber gerade aus Anerkennung der gefährlichen Lage muss man doch effektive Maßnahmen ergreifen und nicht Pseudo-Maßnahmen, die nicht effektiv etwas verändern.

Bevor weitere Maßnahmen, wie die Ausgangssperre, ergriffen werden, die nur das Private betreffen, soll man gucken, ob man den R-Wert nicht auch durch eine effektive Regulierung der Arbeitswelt in den Griff bekommen kann.

Prof. Anna Katharina Mangold, Europa-Universität Flensburg

Nun könnte man erwidern, im Privaten sind aber auch die Infektionen mindestens genau so häufig wie in einem Großraumbüro.

Das ist ein gutes Argument. Wenn wir davon ausgehen, R ist 1, das ist der Wert, worunter wir bleiben müssen, damit wir nicht in ein exponentielles Wachstum geraten: 0,5 des R-Wertes wird durch private Begegnungen im Haushalt generiert, und zwar unausweichlich. Aber was die restliche Zusammensetzung des R-Wertes betrifft, gibt es interessante Zahlen in der Modus-Studie der Technischen Universität Berlin. Da können wir schon sehen, dass gerade das Arbeitsleben ein massiver Treiber ist und auch die Bewegung im öffentlichen Personen-Nahverkehr. Es geht nicht darum zu sagen, das Privatleben soll unreguliert bleiben. Aber bevor weitere Maßnahmen, wie die Ausgangssperre, ergriffen werden, die nur das Private betreffen, soll man bitte gucken, ob man den R-Wert nicht auch durch eine effektive Regulierung der Arbeitswelt in den Griff bekommen kann.

Ein Begriff in Ihrem Gutachten ist das Bestimmtheitsgebot. Könnten Sie den bitte erklären?

Sehr gern. Die Ausgangssperre ist mit einem Bußgeld bewährt. Das heißt, ich begehe eine Ordnungswidrigkeit, wenn ich mich draußen aufhalte, von der Polizei aufgegriffen werde und keinen guten Grund liefern kann. Das Ordnungswidrigkeitenrecht ist die kleine Schwester des Strafrechts. Das heißt, ich werde bestraft. Und das ist eben nur möglich, wenn ich genau weiß, was ich eigentlich tun darf und was ich lassen muss. Hier stellt sich ein Problem bei der konkreten Ausgestaltung der Ausgangssperre, weil hier nicht klar ist, welche Ausnahmen anerkannt werden, weil noch nicht mal alle grundrechtlich gebotenen Ausnahmen aufgeführt sind und, weil ich letztlich in der Macht der Polizei liege. Das ist nicht akzeptabel unter Bedingungen des Grundgesetzes.

Wie wird das Thema Ausgangssperre im Ausland verfassungsrechtlich diskutiert?

In Frankreich zum Beispiel ist sie eingeführt worden, und die Leute haben sich früher getroffen. Dann musste sie weiter nach vorn verlegt werden, um noch effektiv zu sein. In Frankreich hatte der wissenschaftliche Beirat die Erkenntnis, dass das so nicht sinnvoll ist. Aber Frankreich agiert in einem ganz anderen verfassungsrechtlichen Kontext und hat auch schon seit längerer Zeit den Notstand ausgerufen, insbesondere nach den terroristischen Attentaten. Da ist vielleicht die Bereitschaft, Einschränkungen der individuellen Freiheiten hinzunehmen, sehr viel größer. Wenn man sich Italien anguckt: Da waren die Bilder aus Bergamo absolut dramatisch. Das hat die ganze Republik vor Augen. Dann ist man bereit, sehr viel strengere Ausgangssperren hinzunehmen. In Deutschland könnte man einen innerdeutschen Vergleich machen, Bayern und Baden-Württemberg hatten Ausgangssperren. Da muss man sagen, dass die nicht sehr, sehr viel beigetragen haben zu einer Verringerung des Infektionsgeschehens.

Hat sie in Flensburg Sinn ergeben und war die Ausgangssperre legitim für eine temporäre Phase?

Es gab in der ersten Woche Regelungen in dieser Allgemeinverfügung, die ich für verfassungswidrig halte. In der ersten Woche war es Alleinstehenden verboten, Kontakt mit einer anderen Person zu haben. Das ist geändert worden in der zweiten Woche. Was die Ausgangssperre selbst betrifft: Es ist so, dass der Staat sich rechtfertigen muss, das heißt, im Prinzip muss die Oberbürgermeisterin erklären, dass es andernfalls zu massiven Aufläufen kommt in der Öffentlichkeit. Im Februar war es noch richtig kalt, dann zu erwarten, dass Menschen sich massenweise draußen versammeln, wäre eine Erwartung, die ich nicht so gehabt hätte. Unter diesen Bedingungen zu sagen, jetzt machen wir auch noch eine Ausgangssperre, das finde ich, ist ein mäßig überzeugendes Konzept.

Vielleicht lag es auch an der Erwartungshaltung, es muss etwas getan werden, um die Inzidenz runterzukriegen.

Wer Erfolg hat, da guckt man nicht mehr so genau hin. In Flensburg ist es ja gelungen, natürlich mit vereinten Kräften und ganz vielen verschiedenen Einzelmaßnahmen. Da stellt sich die Frage: Hätte es auch einen Rückgang gegeben, wenn man keine Ausgangssperre angeordnet hätte? Gerade in Norddeutschland, wo wir bislang weniger harsche Einschränkungen hatten als in Süddeutschland, da bleibt die Frage, ob damit nicht eine besondere Appell-Funktion verbunden ist, die den Leuten sagt: Bitte, ihr müsst jetzt wirklich aufpassen. Das mag schon für die Geeignetheit in einer solchen Situation sprechen.

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