Inklusion

So kämpfte sich die 11-Jährige Ida Henrich ins Leben zurück

So kämpfte sich die 11-Jährige Ida Henrich ins Leben zurück

So kämpfte sich die 11-Jährige Ida Henrich ins Leben zurück

Jonas Bargmann/shz.de
Husum
Zuletzt aktualisiert um:
Obwohl Ida Henrich erst elf Jahre alt ist, hat sie schon viele Rückschläge weggesteckt. Davon hat sie sich aber nicht unterkriegen lassen, sondern sich ins Leben zurückgekämpft. Foto: Volkert Bandixen

Diesen Artikel vorlesen lassen.

Hypoglykämie, Sauerstoffmangel im Gehirn und BNS-Epilepsie – viele Hürden hat Ida Henrich aus Husum bewältigen müssen.

Mehrere Schritte Anlauf nimmt Ida Henrich, ehe sie den rot-schwarzen Plastikball wuchtig in ein Mini-Fußballtor schießt. Die Elfjährige mit dem dunkelblonden Bob und roter Brille reißt ihre Arme in die Luft, schreit „Tooooor!“, und dreht jubelnd in Richtung des Trampolins in ihrem Garten ab. Im ersten Moment wirkt alles wie gewohnt: ein Mädchen, das sportbegeistert ist. Von einer geistigen Behinderung, die die Husumerin hat, ist bislang nichts zu spüren.

Erst, wenn man sich länger mit Ida unterhält, erkennt man es. Manchmal spricht sie undeutlich, an einigen Stellen fällt ihr das Finden von Wörtern schwer. Es sind Kennzeichen ihrer geistigen Behinderung.

Ärzte streuen wenig Optimismus

Das Mädchen ist im Juni 2010 erst drei Tage auf der Welt, als bei ihr eine Hypoglykämie (zu niedriger Blutzuckerspiegel) diagnostiziert wird. Zwischenzeitlich läuft sie sogar blau an und muss in einem nahegelegenen Frankfurter Krankenhaus behandelt werden. Die Unterzuckerung sorgt kurze Zeit später für einen Sauerstoffmangel im Gehirn.

Außerdem bildet sich in Idas Körper eine BNS-Epilepsie (Blitz-Nick-Salaam) – eine besonders schwere Form der Krampanfälle, die als schwer behandelbar gilt. Für Bruchteile von Sekunden äußern sich die Krämpfe mit heftigen Muskelzuckungen. Diese fahren blitzartig durch den Körper. Die Folge: Rasche Beugebewegungen des Kopfes und des Rumpfes, ein Auseinanderbreiten und anschließendes Beugen der Arme und Anziehen der Beine.

Wenn Ida nicht gerade gegen ihren Opa oder Vater Fußball spielt, springt sie auf einem großen Trampolin. Foto: Volkert Bandixen

Fachärzte meinen, es stehe „sehr düster“ um Ida. Die Wahrscheinlichkeit, dass das erste Medikament gegen die Epilepsie anschlage, liege bei 30 Prozent. „Die Überlebenschancen habe ich damals gar nicht erst recherchiert“, erinnert sich Mutter Antje Henrich. Doch Ida hat Glück. Gleich die erste Medikation schlägt an. Das Arzneimittel unterdrückt die Krampanfälle vorerst. Seit zwei Jahren ist sie krampffrei. Medikamente gegen die Epilepsie muss sie nach wie vor nehmen.

Von den Erlebnissen im Säuglingsalter ist gegenwärtig nichts mehr zu spüren. Ida ist eine Kämpferin. Sie wirkt befreit und strahlt über das gesamte Gesicht, während sie im Garten umhertobt. „Ich bin schließlich ein tapferes Mädchen“, sagt sie. Ihre herzliche Art und ihr sonniges Gemüt sind sofort erkennbar. „Ich bin einfach glücklich“, meint Ida und fängt an zu lachen. Ihr macht es nichts aus, dass sie unter einer starken Sehbehinderung leidet. Um Buchstaben erkennen zu können, benötigt sie eine Sehhilfe, die das Geschriebene in achtfacher Größe wiedergibt.

Aufgeben? Für Ida ist das keine Lösung

Sie hat sich auch nicht aus der Bahn werfen lassen, als Experten starke Zweifel gehabt haben, dass das Mädchen das Sprechen oder Fahrradfahren lernen könne. Fachärzte und Therapeuten hat sie eines Besseren belehrt. „Das gleicht einem Wunder“, sagt Vater Guido Kerbsties, während er auf der Terrasse seines Gartens sitzt und auf Ida blickt, die vorsichtig auf ihrem pinkfarbenen Zweirad den Steilhang empor fährt. Tausende Kilometer ist die Familie aufgrund der Arzt- und Therapiebesuche in den vergangenen Jahren gefahren. Die Touren haben sich gelohnt.

Mittlerweile lernt Ida, die 2019 mit ihren Eltern und ihren Geschwistern Emy (13) und Ava (7) von Frankfurt nach Nordfriesland gezogen ist, das Schreiben. Aufgrund der Sehbehinderung fallen ihre Buchstaben deutlich größer aus als die der Kinder ohne Beeinträchtigung. Aber: Sie macht Fortschritte. Dass sie von der Rungholtschule (4. Klasse), einem Förderzentrum für Schülerinnen und Schüler mit einer geistigen Behinderung, und von ihren Eltern unterstützt wird, hilft ihr.

Allerdings: Anders als ihre Geschwister Emy und Ava, die in den Klassenstufen sieben und eins sind, wird sie kein Abitur oder die mittlere Reife machen können. „Sie wird aber mit zunehmendem Alter selbstständiger werden, bestimmt in einer Behindertenwerkstatt arbeiten“, vermutet ihre Mutter. Autofahren oder Steuererklärungen abgeben wird sie dagegen nicht können, auch, wenn sie das gerne möchte – zumindest Treckerfahren.

Dafür begeistert sie sich besonders. Bei einem Urlaub auf Hallig Hooge ist sie mit einem Trecker mitgefahren. Und auch jetzt sitzt sie auf einem roten Gefährt und braust im Garten umher. Und falls sie mal nicht auf dem Ackerschlepper sitzt, dann spielt sie entweder mit den drei Zwergkaninchen Sissi, Liv und Franz – oder gegen ihren Vater oder Opa Fußball. „Ich mag Eintracht Frankfurt und den 1. FC Köln. Mein Lieblingsspieler ist Timo Horn“, sagt sie und fängt an, breit zu grinsen. Ida ist eben stets in Bewegung.

Fußball ist eine Leidenschaft von Ida. Sie ist Fan von Eintracht Frankfurt und des 1. FC Köln. Foto: Volkert Bandixen

Bewegung ist für Ida Freiheit und Glück zugleich – nicht nur in Zeiten der Corona-Pandemie. Von der bekomme sie nur wenig mit, meint sie. Sie merkt allerdings, dass sich der Kontakt zu den Mitschülern reduziert hat. Denn die Rungholtschule befindet sich derzeit im Wechselunterricht. Manchmal verabredet sie sich aber dennoch, zum Beispiel mit Mohamad, der in ihre Klasse geht. Allerdings sind die Kinder meist auf die Eltern angewiesen, die sie mindestens zu den Treffen fahren müssen, teilweise sogar dabei sind. „Weil sie zum Beispiel Medikamente brauchen, die wir ihnen nicht geben können“, erklärt Mutter Antje.

Auf die Frage, was Ida glücklich macht, überlegt sie mehrere Sekunden, ehe sie dann mit vorsichtiger Stimme meint: „Das Meer, ich liebe es. Ich finde es blöd, dass ich derzeit nicht schwimmen kann, weil das Wasser so kalt ist. Wenn ich das wieder könnte, wäre das toll. Und Ausflüge an den Strand finde ich auch toll.“ Aber weil sich die Wassertemperaturen derzeit noch im einstelligen Bereich befinden und die Familie sich an die Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung hält, begnügt sie sich vorerst wieder mit dem rot-schwarzen Plastikfußball.

Mehr lesen

wort zum Sonntag

Hauptpastorin Dr. Rajah Scheepers der Sankt Petri Kirche, Die deutschsprachige Gemeinde in der Dänischen Volkskirche
Rajah Scheepers
„Staatsbürgerschaften“