Übergewicht

So hilft die Adipositas-Selbsthilfegruppe Flensburg

So hilft die Adipositas-Selbsthilfegruppe Flensburg

So hilft die Adipositas-Selbsthilfegruppe Flensburg

Lisa Bohlander/shz.de
Flensburg
Zuletzt aktualisiert um:
Sie stehen zu ihrer Krankheit: Gruppenmitglied Lena Schütt, Vorsitzende Daniela Hall und Stellvertreter Frank Leitner (v.l.). Foto: Michael Staudt

Diesen Artikel vorlesen lassen.

Hilfe bei Übergewicht: Anlässlich des World-Obesity-Days am 4. März stellt sich die Selbsthilfegruppe Flensburg vor.

Wenn man Daniela Hall heute begegnet, hat man nicht das Gefühl, eine verzweifelte Frau zu treffen. Im Gegenteil: Mit ihrem sicheren Auftreten und scharfen Blick dominiert sie das Geschehen. So war sie schon immer, erzählt sie. Noch vor einem Jahr bot sich einem dennoch ein anderes Bild. Damals wog die 174 Zentimeter große Frau knapp 170 Kilogramm – seit über der Hälfte ihres Lebens leidet Daniela Hall an Adipositas.

Rauf und wieder runter – der „Jojo-Effekt“

Ihre Gewichtszunahme begann auf der weiterführenden Schule. „Ich kann keinen Finger drauf legen, woran es gelegen hat, aber ab dem zehnten Lebensjahr ging es los“, erzählt die Flensburgerin. Mit 15 wurde sie das erste Mal auf Kur geschickt, mit 19 das zweite Mal. „Da habe ich auch immer schön abgenommen – im Nachhinein aber auch wieder schön zugenommen.“

Hilflos stürzte sich die heute 34-Jährige von einem Diätversuch in den nächsten, trotzdem stieg das Gewicht immer weiter an. „Man weiß eigentlich genau, was man falsch macht. Aber man kommt da trotzdem nicht raus.“ Irgendwann sei ein Punkt erreicht, an dem man ohne Hilfe und Unterstützung nicht mehr weiterkommt. Und die sei von kaum einem Hausarzt zu erwarten – stattdessen wandte sich Daniela Hall an eines der Adipositaszentren im Land und trat in die Selbsthilfegruppe (SHG) ein.

Seit etwa zehn Jahren gibt es sie als Verein in Flensburg, vor dreieinhalb Jahren übernahm Daniela Hall die Leitung. Die Flensburgerin brachte Struktur in den Verein, 2020 trat er in die Adipositashilfe Deutschland ein. „Die Leute müssen viel mehr aufgeklärt werden über das Ganze“, sagt Hall. 

Lena Schütt kam in die Selbsthilfegruppe, um neue Leute kennenzulernen – jemanden, der sie versteht. „Ich habe mich ja nicht getraut, alleine irgendwo hinzugehen.“ Die 27-Jährige war, solange sie sich erinnern kann, schon immer dick. „Für mich war Essen da, um ein Loch zu stopfen.“

Gegen das emotionale Essen

Dieses Verhalten kennt Dr. Carina Fischer von vielen ihrer Patienten. Die zertifizierte Ökotrophologin arbeitet als Ernährungsberaterin zum einen selbständig in einem Beraternetzwerk, zum anderen im Adipositaszentrum in Husum. Mit neuen Klienten führt sie zuallererst ein Aufnahmegespräch. „Dabei sind Wertschätzung und Einfühlungsvermögen das Wichtigste.“ Die meisten Betroffenen hätten einen psychischen Leidensdruck, der sich nach und nach aufgebaut hat – 60 bis 80 Prozent der extrem Übergewichtigen hätten traumatische Erfahrungen wie Missbrauch, Unfälle oder den Verlust eines geliebten Menschen gemacht. „Deswegen ist es erst einmal wichtig, genau zuzuhören.“

Es geht in erster Linie gar nicht darum, auf das Gewicht zu gucken, sondern um die Verhaltensänderung.

Dr. Carina Fischer, Ernährungsberaterin

Fischer achtet dabei nicht nur darauf, was gegessen wird, sondern vor allem auf „das emotionale Essen, warum gegessen wird.“ Oft sei nicht Hunger, sondern Stress, Langeweile, Kummer und Frust der Auslöser. „Es geht in erster Linie gar nicht darum, auf das Gewicht zu gucken, sondern um die Verhaltensänderung.“

Der konservative Weg: Erfolgschancen bei etwa einem Drittel

Die Rantrumerin arbeitet seit 20 Jahren mit übergewichtigen Menschen aus ganz Schleswig-Holstein. Ein Drittel der Betroffenen erreiche ihre Ziele mit herkömmlichen Mitteln ohne OP, meist mit einem relativ geringen BMI von 30 bis 35. „Die anderen zwei Drittel haben so viel gemacht und ausprobiert – sie haben eine richtige Diätkarriere hinter sich.“ Dies seien vor allem stark Übergewichtige, „bei denen der Magen enorm überdehnt ist. Da kommt keine natürliche Sättigung mehr zustande.“ Dann zeige auch eine Ernährungsumstellung keinen Erfolg mehr.

Eine der letzten Alternativen ist der Weg zum Chirurgen, wie zu Dr. Jan Beckmann, Leiter des Referenzzentrums für Adipositas-Chirurgie am Uni-Klinikum in Kiel (UKSH). Knapp 200 Eingriffe pro Jahr werden hier in der Adipositas-Chirurgie durchgeführt. „Eine chirurgische Option kommt in der Regel erst ab einem BMI von 40 in Frage“ – nicht selten hätten Beckmanns Patienten einen BMI von 60 oder 70. „Die Betroffenen haben insgesamt einfach eine niedrige Lebensqualität durch die direkten Einschränkungen durch das Körpergewicht, zum Teil aber auch durch die Reaktionen der Gesellschaft darauf, durch die Stigmatisierung“, erzählt der Chirurg.

Die Mitglieder der Selbsthilfegruppe kennen das: Wie Lena Schütt, die als Altenpflegerin von ihren Patienten gefragt wird, ob sie schwanger sei. Oder Daniela Hall, die während ihrer Ausbildung zur Automobilkauffrau „nicht in das Bild einer Abteilung passte“ und dort schlichtweg nicht eingesetzt wurde.

Daniela Hall Foto: Michael Staudt

Auch beim Arzt, bei dem der Untersuchungsstuhl zu klein ist oder eine zweite Arzthelferin zur Untersuchung beim Frauenarzt nötig war, zieht sich die Diskriminierung durch. Sprüche wie „Nehmen Sie erstmal 30 Kilo ab“ seien keine Seltenheit. Und Sprüche wie „Schön, wie du damit umgehst“ hängen Daniela Hall zum Hals heraus. 

Ich hatte Angst, morgens nicht mehr aufzuwachen.

Lena Schütt

Zusätzlich zum äußeren Druck litt Lena Schütt unter Bluthochdruck, im Fitnessstudio wurde ihr immer wieder schwarz vor Augen. „Ich hatte tatsächlich auch Angst, morgens nicht mehr aufzuwachen.“ Für die damals 172 Kilo schwere Frau musste sich etwas tun – sie entschied sich für eine OP.

OP: Unterschiedliche Wege führen zum Ziel

Am UKSH werden zwei Hauptoperationen durchgeführt: Der Schlauchmagen und der Magenbypass. Bei der gut einstündigen Schlauchmagen-OP wird ein Teil des Magens entfernt, von theoretischen zwei Litern Fassungsvermögen bleiben gerade einmal 150 bis 200 Milliliter übrig. Beim Magenbypass – die OP dauert eineinhalb Stunden – wird ein Großteil des Magens vom Verdauungsapparat getrennt, bleibt aber im Körper – das Essen des Patienten gelangt getrennt von den Magensäften in den Dünndarm.

In beiden Fällen passt in den Magen deutlich weniger rein: „Wenn sie ein großes Glas Wasser trinken, dann ist dieser Magen auch erstmal gefüllt“, sagt Beckmann. „Durch hormonelle Umstellung hat der Patient weniger Appetit und erfährt dadurch einen relativ rapiden Gewichtsverlust, ohne Hunger zu leiden.“ Innerhalb von ein bis zwei Jahren können Patienten so bis zu 70 Prozent ihres Übergewichts loswerden. So war es bei Lena Schütt: Eineinhalb Jahre nach dem Magenbypass wiegt sie bei 168 Zentimetern Körpergröße knapp unter 100 Kilo.

Ihr Weg ist damit nicht zu Ende: Ernährungsberatung, medizinische Betreuung, Bewegung durch Physiotherapie und Sport und psychische Behandlung – auf allen Ebenen brauchen die Betroffenen dauerhaft Betreuung. „Das ist der chronische Charakter dieser Krankheit, die Patienten müssen ein Leben lang behandelt werden“, sagt Beckmann.

Doch bis Hausärzte dies wirklich unterstützen können und Krankenkassen die Rundum-Behandlung, auch ohne das Ziel einer OP, problemlos finanzieren, ist es noch ein weiter Weg. Dabei ist Adipositas eine echte Volkskrankheit: In Deutschland gelten 20 bis 25 Prozent als fettleibig – das ist ein Viertel der Bevölkerung.

Stress und Frust vom Kalorienzählen

Im vergangenen Frühjahr, während des ersten Lockdowns, war für Daniela Hall eine Grenze erreicht. „Ich war nervlich einfach am Ende, es ging nicht mehr. Ich konnte einfach keine Kalorien mehr zählen.“ Sie fühlte sich überfordert, der Druck, jedes Mal aufs Neue zu schauen, was sie essen darf und was nicht, wurde zu groß. „Nach über 20 Jahren war bei mir der Punkt erreicht: Bis hierhin und nicht weiter.“ Sie leitete alles Nötige für einen Eingriff in die Wege, im August wurde sie in Husum operiert. „Durch die Selbsthilfegruppe habe ich im Vorfeld aber auch viel für mich getan, ohne die OP im Fokus zu haben.“

Selbsthilfegruppe heißt ‚Jeder hilft jedem‘ und nicht ‚Einer hilft allen‘.

Daniela Hall

Jeden zweiten und vierten Donnerstag trifft sich die Gruppe. Momentan finden die Treffen online statt, was etwas spärlicher besucht wird als die Präsenztreffen in der Diako – dort waren es stets um die 15 Teilnehmer. „Selbsthilfegruppe heißt ‚Jeder hilft jedem‘ und nicht ‚Einer hilft allen‘. Es setzt sich aus den Erfahrungen von allen zusammen“, berichtet Hall.

Die amerikanische Variante mit einem Gruppenleiter, der die Teilnehmer mit einem „Entertainingprogramm“ berieselt, gibt es dort nicht. „Jeder bringt etwas mit ein und trägt seinen Teil dazu bei“, sagt Lena Schütt. „Ich kann meine Erfahrungen teilen, ich kann etwas lernen und Fragen an die Runde stellen.“ Daniela Hall versichert: „Das was in der Gruppe besprochen wird, das bleibt auch in der Gruppe. Ich werde nicht verurteilt, ich werde ernst genommen.“

Foto: Michael Staudt

Heute wiegt Daniela Hall 117 statt knappen 170 Kilo und trägt zehn Kleidergrößen weniger. Ihre Insulinresistenz verbessert sich stetig. Ein Fortschritt, den sie ihrer Disziplin und ihrem Schlauchmagen zu verdanken hat – obwohl die Buchhalterin immer strikt gegen die OP war. Die Selbsthilfegruppe ist für jeden da: neben Frauen auch Männer wie Frank Leitner, Betroffene die es ohne Operation versuchen wollen oder mit.

„Das Leben wird einfach leichter. Diese Leichtigkeit, die man wieder ins Leben kriegt, ist immer das primäre Ziel von uns gewesen.“ Für das vergangene Jahr hatte die Gruppe viel geplant: Gemeinsame Workshops, Vorträge von Ärzten und Therapeuten, ein Sportprogramm wie Spaziergänge, Schwimmen, Stand-Up-Paddeln – das alles soll nachgeholt werden, sobald wie möglich.

Definition

Adipositas (von lateinisch „adeps“ = „Fett“), auch bekannt als Fettleibigkeit oder Fettsucht, ist eine von der WHO und der Bundesregierung anerkannte Ernährungs- und Stoffwechselkrankheit mit starkem Übergewicht. Bei der Definition ist das Verhältnis von Körpergewicht zu Körpergröße entscheidend, bekannt als Body-Mass-Index (BMI). Ab einem BMI von 30 gilt ein Mensch als adipös, ab einem BMI von 40 ist die Rede von morbider, also krankhafter, Adipositas. Zu den zahlreichen Begleiterkrankungen zählen Bluthochdruck, Diabetes Typ II, Verfettung der Leber sowie psychische Erkrankungen wie Depressionen.

 

Mehr lesen