Schutzkonzept

Mehr tun gegen sexualisierte Gewalt im Schulalltag

Mehr tun gegen sexualisierte Gewalt im Schulalltag

Mehr tun gegen sexualisierte Gewalt im Schulalltag

Frank Jung/shz.de
Kiel
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Als das Bildungsministerium für das Schuljahr 2018/2019 erstmals in einer Datenbank Gewaltvorfälle an Schulen erfasst hat, wurde der Tathintergrund in 26 von 585 Fällen als sexistisch bewertet. Foto: Christian Lipovsek

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Zu viele Vorfälle bleiben unentdeckt, finden Landespolitik und Experten. Das wollen sie ändern.

Wie groß das Problem wirklich ist, weiß keiner. Aber vollständige Zahlen kann es kaum geben, zu ausgeprägt dürfte bei vielen Opfern die Scham sein, darüber zu reden. Ernst genug jedenfalls ist das Thema für die Jamaika-Koalition, um dagegen Flagge zu zeigen: Es braucht mehr Einsatz gegen sexualisierte Gewalt an Schulen. Das verlangen die schulpolitischen Sprecher von CDU, Grünen und FDP in einem Antrag für den Bildungsausschuss des Landtags. Der Vorstoß steht dort am Mittwoch auf der Tagesordnung.

Fachtag, Schulkonzepte, Leitfaden, Lehrer-Knowhow

Auch wenn viele Einzelheiten offenbleiben: Immerhin wird darin der politische Wille bekundet, „die Prävention, Beratung und Intervention in Bezug auf sexualisierte Gewalt im schulischen Kontext zu intensivieren und finanziell abzusichern“.

Ein landesweiter Fachtag ist dazu geplant. Mittelfristig sollen alle Schulen Schutzkonzepte für ihr Umfeld aufstellen und ins Schulprogramm aufnehmen. Das Land möge seinen schon vorhandenen Handlungsleitfaden „Sexuelle Übergriffe an Kindern und Jugendlichen im schulischen Kontext“ aufwerten, und zwar mit Hilfe von Praktikern aus Beratungsstellen. Und wohl die wichtigste Baustelle soll werden, dass Lehrkräfte in der Aus- und Fortbildung lernen, wie sie sexualisierte Gewalt überhaupt erkennen und darauf reagieren.

Intervention wird aus unserer Sicht an den Schulen vernachlässigt.

Peter Panten, Beratungslehrerverband

„Wenn Vorfälle auftauchen, wird bisweilen spontan und „aus dem Bauch heraus“ reagiert“, stellt Peter Panten aus dem Vorstand des auf Krisensituationen spezialisierten Beratungslehrerverbands fest. Das führe dazu, „dass Intervention in den Schulen aus unserer Sicht oft vernachlässigt wird“. Panten hat sich im Rahmen einer schriftlichen Anhörung unter Experten geäußert, die der Bildungsausschuss zur Vorbereitung der Beratung am Mittwoch initiiert hat. Sie untermauert den Bedarf zum Handeln.

Unsicherheit bei Lehrkräften

Werner Reinhart, Präsident der Lehrerschmiede Europa-Universität Flensburg, befürwortet „eine verstärkte Aufnahme des Themas (sexualisierte) Gewalt in alle Phasen der Lehrkräftebildung“. Da dies bisher kaum geschehe, führe dies „zu großen Unsicherheiten seitens der Lehrkräfte beim Erkennen und bei der Abschätzung von Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten“ bei Verdachtsfällen.

Als das Bildungsministerium für das Schuljahr 2018/2019 erstmals in einer Datenbank Gewaltvorfälle an Schulen erfasst hat, wurden der Tathintergrund in 26 von 585 Fällen als sexistisch bewertet. Neun Vorkommnisse wurden als regelrechtes Sexualdelikt eingestuft, in zwei Fällen spielte die sexuelle Orientierung des Opfers eine Rolle. Erscheint den Regierungsfraktionen dieser Anteil „in der Gesamtbetrachtung von Gewaltvorfällen an Schulen zwar als gering“. Jedoch sei diese Form der Verletzung von Persönlichkeitsrechten besonders schwer.

Der Verband der Schulpsychologen im Land zeigt sich „verwundert“, dass von 795 beteiligten Schulen nur 149 überhaupt irgendwelche zu erfassenden Gewalt-Ereignisse angaben – „denn die gewaltfreie Schule gibt es nach schulpsychologischer Alltagserfahrung schlechthin nicht“.

Auch Grenzverletzungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze beeinträchtigen das Lernklima.

"Petze-Institut für Gewaltprävention"

Das Kieler „Petze-Institut für Gewaltprävention“ ist regelmäßig mit Workshops an Schulen im Einsatz. Es mahnt: „Auch Grenzverletzungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze beeinträchtigen das Lernklima.“ In einer Umfrage des Deutschen Jugend-Instituts gaben 60 Prozent der Teilnehmer an, schon einmal Opfer einer zumindest verbalen sexuellen Belästigung geworden zu sein.

Experten und Opposition: Jamaika vergisst digitale Ausprägungen

Ebenso wie der Flensburger Uni-Präsident vermisst auch das „Petze-Institut“, dass die Jamaika-Politiker digitale Dimensionen sexueller Gewalt mit in den Blick nehmen. Gerade in der Pandemie spiele das eine zunehmende Rolle. Vor Augen haben die Experten zum Beispiel fiese Fotos und oder Textnachrichten, die in WhatsApp-Gruppen verschickt werden. Auch die SPD-Opposition fordert ein einem Alternativ-Antrag ein stärkeres Augenmerk auf die digitalen Ausprägungen.

Die Vorsitzende der Opferschutz-Organisation Weißer Ring, Ex-Innen-Staatssekretärin Manuela Söller-Winkler, fordert, „an allen Schularten altersgerechte Präventionsprogramme einzurichten“. Enthalten sollten Schutzkonzepte Verhaltensrichtlinien, etwa zum Umgang mit Verdachtsfällen, Notfallpläne und ein Rehabilitationsverfahren, wenn sich Verdächtigungen als falsch herausgestellt haben.

Ein Blick auch für Lehrer in der Opferrolle

Die Landesschülervertretung der Gymnasien verlangt, dass zum Thema an jeder Schule verpflichtend wenigstens je eine männliche und weibliche Lehrkraft zu Beauftragten fortgebildet wird. Zur Orientierung aller, die an dem Thema arbeiten, bedürfe es zudem einer Definition, was denn alles unter sexualisierte Gewalt falle.

Und laut Lehrerorganisation Verband Bildung und Erziehung (VBE) darf eines nicht vergessen werden: Der Vorstoß der Koalition nehme „leider nicht Grenzüberschreitungen gegenüber Lehrkräften in den Blick. Dies sollte nachjustiert werden“.

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